REMEMBER HIM
von Harald Zilka
»Remember Him« basierend auf dem gleichnamigen Film von Harald Zilka mit Günter Tolar in der Hauptrolle.
Lektorat: Victoria Muttenthaler
Fotos: Karin Kirchner
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung.
Copyright: © 2014 Harald Zilka
Covergestaltung & Satz: Sound & Visual Project
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-9870-3
Prolog
Das Kind von der Straße
Der Mann mit dem Trenchcoat
Phasen der Trauer
Der Fünfte im Zimmer
Das dunkle Refugium
Die Dunkelheit
Die Bedeutung der Dinge
Albrecht räumt sein Leben
Die Schatten der Nacht
Wege der Läuterung
Die Kiste der Erinnerung
Albrecht beginnt zu verstehen
Das Mädchen in Schwierigkeiten
Albrecht ist enttäuscht
Apfeltasche und Big Mac
Besuch bei Albrecht
Italienischer Abend
Das letzte Treffen
Ein neuer Anfang
Spuren auf Teneriffa
Der römische Garten
Lisa Maria
Albrecht kehrt zurück
Clara
Der Traum am Meer
Raphaels Tod
Der Herbst des Lebens
Das Erbe
Nach vorne und nie zurückschauen
Die Übergabe der Erinnerung
Epilog
Nachwort zum Buch
Sie werden sagen, ein Friedhof ist nicht der richtige Ort, um einem fünfzehnjährigen Mädchen zu begegnen. Wenn man genau darüber nachdenkt, halten sich nicht einmal Erwachsene gerne dort auf, wo aus unbekannten, in Stein geschlagenen Namen lebendige Erinnerungen werden, wenn man die Inschriften den Menschen zuzuordnen weiß. Mancher mag den Gräberreihen und Parkanlagen mit einem gewissen Unbehagen entgegentreten. Andere sagen, Friedhöfe haben etwas Positives, sehr Energetisches, vor dem man keine Angst haben muss. Einige Zeit dachte ich, die Geschichte handelt von Religion oder Spiritualität, aber das tut sie nicht. Spiritualität ist nicht nur auf dem Friedhof zu finden, sondern generell in der Natur. Bei einem solchen Spaziergang im Freien habe ich beschlossen, die Geschichte niederzuschreiben. Viele Monate und Jahre hatte ich mir das immer wieder vorgenommen und es vor mir hergeschoben. Eines Tages fasste ich den Entschluss und begann einfach damit, es niederzuschreiben. Ich machte einen langen Spaziergang auf einem Grashügel über der Stadt und der kühle Wind schlug mir ins Gesicht. Das war der Augenblick, als meine Erinnerungen an Albrecht und die geheimnisvolle Kiste sich in meinem Kopf zusammensetzten wie ein Mosaik. Albrecht, der alte Mann mit dem beigen Trenchcoat war jemand, den Sie nicht einmal bemerkt hätten, wenn sie ihm auf der Straße begegnet wären. Er war groß und trotz seiner hageren Gestalt keiner, der besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. Niemand, den man besonders lange im Gedächtnis behielt. Eines von zahllosen Gesichtern, denen man im Laufe eines Tages begegnet, ohne dass diese Begegnungen Spuren hinterlassen. Für gewöhnlich macht man sich nicht die Mühe, Fremde so weit wahrzunehmen, dass man ihre Schicksale hinterfragt. Sie rauschen vorbei, kreuzen unsere Leben und verschwinden, wie die Schatten einer Nacht, wenn die Sonne aufgeht. Sie lösen sich auf, als wären sie nie da gewesen wie Sandburgen am Strand. Man ist ja sowieso das ganze Leben damit beschäftigt, seine eigenen Probleme zu meistern. Natürlich könnte man meinen, diese Geschichte handle von Schicksal, von Vorherbestimmung und von höheren Mächten. Albrecht hatte - wenn er überhaupt je an Höheres geglaubt hat - ein Leben voller Enttäuschungen hinter sich. Besonders in den mittleren Lebensjahren begegnet man Menschen, die ohne Zutun vom Leben geprügelt wurden. Kaum haben sie eine Katastrophe überlebt und sind daran gewachsen, stolpern sie in die nächste Katastrophe. In der Psychologie gibt es sogar einen Ausdruck dafür, das ›self-made-Desaster‹. Es bezeichnet Menschen, die schon zu einem frühen Zeitpunkt, in der Pubertät oder beim Berufseintritt Probleme haben und auch später in negative Bewältigungsmuster fallen. Diese Theorie ist aber schwer umstritten, weil sie in gewisser Weise den Leidenden selbst die Schuld zuschiebt. Manche von den Geplagten schaffen es tatsächlich, ihren Glauben zu wahren oder sogar Gott zu entdecken. Albrecht war keiner von ihnen. Er weigerte sich zu glauben, dass ein Leben voller Prüfungen und Schicksalsschlägen im nächsten Leben belohnt wird. Er verglich den Glauben mit einem Ratenkredit, bei dem man niemals wusste, ob man die Summe ausbezahlt bekommt. »Das ist wie bei einer Versicherung, wo man ein Leben lang einzahlt und im Fall einer Erkrankung die Leistung wegen dieser Vorerkrankung oder jener genetischer Disposition abgelehnt wird!« sagte er oft. Albrecht war aber nicht immer so gewesen. Aufgewachsen am Land, war er sogar katholisch erzogen worden, auch wenn diese Zeit wie ein Nebel am Morgen grau und weit zurücklag. Im Haus seiner Großmutter und auch der Eltern hatte es einen Herrgottswinkel gegeben, eine christliche Zimmerecke in der bäuerlichen Wohnstube. Vielleicht zweifelte Albrecht schon damals daran, denn er wuchs auf in den Wirren des Weltkrieges und verlor zwei Brüder und einen Onkel an der Front. Das Leben hatte ihn gewandelt, seine Einstellung verändert und Albrecht zu einem Pessimisten gemacht, der das Positive im Leben nicht einmal erkennen würde, wenn es ihm auf die Schulter tippt. Einige Zeit suchte er sogar nach dem Glauben, kam aus dem Gestrüpp der negativen Gedanken aber nicht hinaus. Erfahrungen mit dem Tod eines geliebten Menschen hatten damit auch zu tun, aber die hat jeder und muss sie auch bewältigen. Die Psychologie ist voll mit Ratschlägen, wie man seine Trauer verarbeiten kann. Und Albrecht hasste Psychologen noch mehr als er Ärzte hasste. Er gehörte zu den Vertretern seiner Generation, die nie zum Arzt gingen. Ich habe einmal den Fehler gemacht, einem befreundeten Biologen zu erklären, Trauer sei ein Gefühl, das uns von den Primaten unterscheidet. Er hat mich lange angesehen und dann gelacht. Bevor der Abend vorüber war – und es war ein langer, beeindruckender Abend - erfuhr ich von seinen Reisen nach Kenia, wo er die Totenwache der Elefanten beobachtet hatte. Eine Elefantenkuh war nach einem Schlangenbiss zusammengebrochen und die Forscher beobachteten mehrere Tage eine Herde von Tieren, die vor Trauer ganz benommen war. Jeden Abend wanderten die Tiere acht Kilometer weit, um Futter zu finden. Am nächsten Morgen trotteten sie acht Kilometer zurück zu ihrer toten Artgenossin, um Mahnwache zu halten. Ich erfuhr vom Abschiedsschmerz der Paviane und Schimpansen, die ihre toten Kinder herumtrugen, bis sie auf ihren Schultern zu Staub zerfielen. In heißen Gebieten passierte das innerhalb von wenigen Tagen. »Am Anfang dachten wir, die Affen verstehen nicht, dass ihr Kind tot ist! « erzählte mein Freund. »Später entdeckten wir, das dieselbe Affenart, die in kälteren Regionen lebte, sich in viel kürzerer Zeit von ihren Toten verabschieden. Weil das Klima dort es nicht anders zuließ. Die Körper verwesten dort wesentlich langsamer, die Tiere mussten die Toten liegen lassen. Schmerz und Trauer ist etwas, was zum Auftrag der Evolution dazugehört«.
Die Erkenntnis, dass sogar Primaten Tod und Trauer erfuhren und sich Rituale schufen, traf mich hart. Das ist keine gravierende Neuigkeit, von der man nie gehört hat – aber eine, die man lieber zur Seite schiebt. Tiere mit menschlichen Zügen zu sehen, ist unangenehm. Wer geht schon in den Tierpark und baut ein persönliches Verhältnis zu Affen oder Elefanten auf, es sei denn, man blickt zu lange in ihre Augen und damit in das Lebewesen dahinter. Aber wer will das schon? Niemand fährt auf einen Bauernhof und dort einem Schwein einen Namen zu geben, von dem man weiß, dass es zwei Wochen später in Zellophan verpackt im Kühlregal wieder auftauchen könnte.
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