KAPITEL 3
Phasen der Trauer
Das Leben danach war schmerzhafter als er vermutet hatte. Eine Zeit der Umstellung und des Lernens. Neuorientierung sei wichtig, hatte man ihm angeraten. Der Verlust stieß Albrecht in eine tiefe Betäubung. Die Benommenheit begann morgens, nachdem er geweint hatte, trieb ihn durch den Tag wie ein Blatt im Wind und wurde höchstens von einem erschöpften Schlaf voller wirren, rauschartigen Träumen durchbrochen. Dabei waren Ehen und Beziehungen oft gar kein Honigschlecken, sondern ein emotionales Auf und Ab der Gefühle. Ein Leben lang gab es viele Dinge, die man als störend empfand oder am Partner bekrittelte und jede Menge Probleme, die der romantischen Eintracht im Weg standen. Selbst Albrechts Großeltern hatten, solange er sie kannte, ständig miteinander herumgemeckert. Der Erfolg dieser Generation war wahrscheinlich, dass sie Dinge, die sie nicht hören wollten, einfach nicht hörten und niemals darauf reagierten. Außerdem waren Trennungen aus sozialen Gründen kaum möglich, vor allem für die Frauen. Das hat sich heutzutage geändert, wo selbst die Scheidungen gefeiert werden. Auch das Verhältnis von Jugendlichen und Erziehungsberechtigten hat sich stark verändert. In den USA gab es 2014 den ersten Fall, wo ein minderjähriger Teenager von den Eltern auszog und sie hinterher um Unterhalt verklagt hat. In Amerika ist das gar nicht selten und der Trend zog herüber nach Europa wie eine Kaltluftfront. Inzwischen gab es eine ganze Industrie von Lebensberatern, Psychologen, Anwälten und Jugendbeauftragten, die gut daran verdienten. Die Welt hatte sich einfach geändert, doch für Albrecht war sie gut gewesen, solange sein Leben in der Bahn lief. Er war nun mal kein spontaner Mensch und niemand, der sich freute, wenn die Hausschuhe abends nicht am erwarteten Platz standen. Albrecht war kein besonders spannender Charakter, sondern ein Meer, dessen schönste Seiten man nur ergründen konnte, wenn auf ihm kreuzte, um die stillen Inseln zu erkunden. So war er stets jemand gewesen, der auch Zeit zum Nörgeln fand. Er hatte alle Phasen der Bewältigung durchlebt. Fünf Phasen sind es, sagt man. Der Schock, das Nicht-Wahrhaben-Wollen, die Aggression, die Depression, das Verhandeln mit dem Schicksal und die Akzeptanz. Entdeckt und beschrieben wurden sie von der Psychologin Kübler-Ross und selbst wenn man bereit war, über Psychologen und Psychologie zu schimpfen oder sie abzulehnen, muss man doch zugeben, dass man früher oder später diese Phasen mehrfach erlebt. Früher oder später lernt sie jeder kennen, ob man sich dessen bewusst ist oder auch nicht. Die Phasen sind bei allen Menschen gleich und offensichtlich auch bei manchen Tieren. Wie die Meisten scheiterte Albrecht daran, den Fortschritt seiner Phasen selbst zu bestimmen. Er war noch mitten in einer Depression, vollgepumpt mit Verdrängung und Selbstmitleid, als er sich schon eingestehen wollte, dass er darüber hinweg gekommen war. In dieser Zeit war er niemals auf dem Friedhof und am Grab, denn die Angst vor dem Schmerz war so groß, dass er nicht die Kraft hatte, sich ihr zu stellen. Und er kam gut damit durch, denn viele Leute, die ihn nach seinem Befinden fragten, gab es nicht. Die meisten seiner Freunde waren längst verstorben und es rächte sich auch, dass er von Grund auf kein kommunikativer Mensch war. Teilweise hatte er so wenige soziale Kontakte, dass er selbst deren Tod nur später durch Zufall erfuhr. Er hatte sich zu sehr zurückgezogen. Albrecht war immer schüchtern gewesen und niemand, der leicht neue Kontakte schloss. In seiner Beziehung hatte er jemanden gehabt, der es konnte und ihm diese Aufgabe abnahm. Auch das ist ein Problem: Eine gute Partnerschaft baut darauf auf, dass man sich ergänzt und somit eine funktionierende Gemeinschaft abgibt, was nicht heißt, dass danach der Übriggebliebene die Aufgaben alleine erfüllen kann. Im Gegenteil, meistens verliert man sogar noch ein Stück von sich selbst. Man lernt ein paar Dinge dazu, doch letztlich ist es, als habe man für eine bestimmte Zeit das Vergnügen gehabt, einen fliegenden Teppich aus Tausend und einer Nacht zu benutzen, um hinterher wieder mühsam über Steine und Berge zu klettern. Selbst der Alltag wurde zu einem Kampf ums Überleben. War es gut für Albrechts Beziehung gewesen, dass er nie in Branntweinstuben gesessen hatte oder dem Alkohol zusprach, war es schlecht für die Zeit danach. Er konnte nicht einmal in einem Wirtshaus sitzen und an Kartenrunden teilnehmen, weil er mit diesem Schlag von Menschen, welche dort täglich saßen, nichts anzufangen wusste. Stattdessen war es ihm gelungen, den Friedhof und den Tod aus seinem Leben zu verbannen und sich damit zu arrangieren, dass er selbst ganz gut davongekommen war. Dabei gab es wenige Alternativen, um sein Leben zu füllen. Nach der Zeit, in der er von der Leere berauscht war, dass er kaum den Unterschied zwischen Tag und Nacht feststellen konnte, begann eine Phase der Betäubung. Alles schien sich in Zeitlupe zu bewegen und jede Regung in seinem Gehirn war verzögert. Schließlich hatte er gelernt so zu leben, als wenn der Verlust nie stattgefunden hätte. 2005 hatte man auf der philippinischen Insel Mindanao zwei japanische Soldaten entdeckt, die sechzig Jahre im Dschungel gelebt und das Ende des zweiten Weltkrieges verpasst hatten. Als man sie fand, wussten sie nicht, dass der Krieg vorbei war und befanden sich in Gefechtsposition. So ähnlich fühlte sich auch Albrecht, der auf einer Insel am Leben war, die nichts mit Leben zu tun hatte. Dort saß er, sah die Tage am Kalender und die Jahreszeiten vor dem Fenster vorbeiziehen und wartete auf den Tod.
KAPITEL 4
Der Fünfte im Zimmer
Dabei war er der Erlösung kurzfristig sehr nahe gekommen. Eine schwere Erkrankung, die blitzartig in Albrechts Leben getreten war (was nicht heißt, dass sie nicht in seinem Körper geschlummert hatte), hat alles verändert. Wer ein Foto von ihm, elf Monate vor seinem Krankenhausaufenthalt gesehen hätte, wäre erschrocken. Es waren zwei verschiedene Menschen. Albrecht war auf jeden Fall für kurze Zeit mehr tot als lebendig und in den wenigen wachen Momenten gar nicht unglücklich über sein Schicksal. Im Gegenteil. Im Spital wurde er gut versorgt, er hatte Gespräche mit seinen Pflegern und mit Ärzten, er bekam sein Essen und die Abläufe in einer Klinik gestalteten einen runden und kontinuierlichen Lebensalltag. So hatte er es gerne. Er war felsenfest davon überzeugt, nicht mehr aus dem Spital zu kommen und zelebrierte seine letzten Tage zunehmend mit einer gewissen Vorfreude. Er freute sich auf jeden Besuch der Schwestern und Ärzte und genoss jede Tablette und jeden Schluck Kontrastmittel beim Röntgen wie einen edlen Burgunder. Das wird Viele erstaunen, weil Spitalsaufenthalte, ja sogar der eigene Geruch dort aus Desinfektionsmittel den meisten Menschen einem Horror gleichkommt. Selbst jemanden zu besuchen ist grauenvoll, weil man von einer Welt voller Vogelgezwitscher, Wärme und Sonne in die Katakomben des Leidens eintauchen muss. Albrecht hatte früher ebenso empfunden, doch die Zeiten hatten sich geändert. War früher ein Schnittlauchbrot oder eine Gemüsesuppe der Höhepunkt des Tages gewesen, wurde ihm jetzt Suppe, ein ausgewogenes Hauptgericht und Obst zur Nachspeise serviert. Wenn man jung ist, wundert man sich oft, warum alte Menschen regelmäßig Ärzte konsultieren oder oftmals der Eindruck entsteht, dass sie sogar ihre Krankheiten hofieren. Albrecht hatte im Krankenhaus sozialen Anschluss, konnte mit anderen Patienten plaudern, Kartenspielen, hatte auch Kontakt mit deren Besucher. Er selbst bekam nur ein Mal Besuch. Ein alter Jugendfreund, der schon erwähnte ehemaliger Sportbetreuer der »Stadt des Kindes«, der nun als Leiter eines Jugendwohnhauses kurz vor der Pensionierung stand, brachte ihm Zeitschriften und Pralinen. Dabei hatte Albrecht gar nicht so viel Kontakt mit ihm gehabt und war sehr verwundert. Meist erweisen sich die Menschen als Freunde in der Not, denen man es gar nicht zugetraut hätte. Damals im Krankenhaus wurde Albrecht Teil einer Geschichte, die sein Verhältnis mit dem Tod beeinflusste. Das Erlebnis prägte ihn. Eines Tages wurde ein dreiundsechzigjähriger Mann, blass und hüstelnd im letzten Stadium einer Tumorerkrankung aus der Notaufnahme in die Station für Innere Medizin überwiesen, in der auch Albrecht lag. Man hatte dem jungen Stationsarzt angeraten, den Patienten in einem Einzelzimmer unterzubringen, doch die waren alle belegt. Nur in Albrechts Sechsbettzimmer war ein Platz frei. Der junge Stationsarzt zögerte. Konnte er den anderen Patienten den Unheilbaren zumuten? Schweren Herzens begab er sich in das Zimmer und führte ein Gespräch mit den Patienten. Ein langes Gespräch. Am Ende beschlossen alle fünf, den Sterbenden aufzunehmen.
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