Ich habe mich immer als Forscherin gesehen – nicht im Labor mit weißem Kittel, sondern als eine partizipatorische Forscherin, die sich ständig auch mit ihrer eigenen Arbeit befasste. Meine eigene Arbeit zu tun hilft mir, die Vorurteile in meinen Wahrnehmungen zu begrenzen und so viele Informationen wie möglich darüber, was ich sehe, höre und erfahre, zusammenzutragen. Bei diesem Prozess sammle ich Daten, die ich dann für weitere Forschungszwecke aufbewahre. Da ich als Cherokee-Kind aufgezogen wurde, bin ich unheilbar neugierig auf fast alles. Das ist Cherokee-Art. Eine Cherokee-Frau als nationale Ministerin für Bildung und Erziehung wäre, wie bereits erwähnt, bei der Gründung der USA eine hervorragende Idee gewesen. Da war viel Arroganz im Spiel, leider. Und deshalb gibt es für uns viel zu tun.
Als ich Frauen überall auf der Welt beobachtete, ihnen zuhörte und mit ihnen zusammensaß, wurde ich dazu motiviert und darin unterstützt, meine eigene Arbeit als Person und als Frau zu tun. Ich war keine Fachfrau, die alle Antworten parat gehabt hätte. Ich war Leiterin und Teilnehmerin an einem Prozess, der unser aller Heilen, Wachsen und Lernen umfasste.
Auf der Grundlage meiner Arbeit, die auf Frauen fokussiert war, entstand das Buch Weibliche Wirklichkeit. Ich beschrieb darin die Wahrnehmungen, die beim Zuhören in mir aufzusteigen begannen.
Wir fanden uns gefangen in einer Gesellschaft, die wir nicht geschaffen hatten und nicht besonders mochten, und doch waren wir aus vielerlei Gründen komplizenhaft daran beteiligt, diese Gesellschaft zu gestalten: aus Angst; weil wir keinen Zugang zur Macht hatten; um zu überleben (so sahen wir es); aus Bequemlichkeit; oder aus der Überzeugung, weder die Kultur noch überhaupt irgendetwas beeinflussen zu können. In diesem System lagen die Macht und der Einfluss in der Hand weißer Männer, und weiße Männer definierten nicht nur, wer wir waren, sie definierten auch, was jede/r und jedes war. Einer der zerstörerischsten Mythen jenes Systems bestand allem Anschein nach in der Überzeugung, die Machtmenschen in jenem System (die Männer) und das von ihnen geschaffene System wüssten und verstünden alles. Wussten oder verstanden sie etwas nicht, so existierte es einfach nicht – per Definition.
Ich kann mir vorstellen, dass junge Frauen von heute sich schwer damit tun, dies in der gegenwärtigen Zeit zu glauben, und doch war es so. Alles, was jenes System nicht kannte und verstand, existierte einfach nicht. (Dieses Phänomen ist heutzutage subtiler und gemeiner, und diese Überzeugungen gibt es immer noch bei vielen männlichen Anführern.) Stimmten wir diesem Glaubenssystem nicht zu und versuchten wir, Einfluss in ihm zu gewinnen, existierten wir nicht. So einfach war das. Wir wurden einfach wegdefiniert. Unser Wissen, unsere Weisheit und unsere Wahrnehmungen existierten einfach nicht.
Vielleicht glauben Sie, wir frühen Feministinnen der zweiten Phase seien unverfroren, wütend und laut gewesen. Natürlich waren wir das. Menschen, die nicht existieren, werden, wenn sie sprechen, nicht gehört – weil das Gesagte nicht existiert, wenn es nicht ins System passt.
Wie bereits gesagt: Um mit den Mythen des WMS (Weißen Männlichen Systems) zurechtzukommen, haben Frauen und Männer ein System entwickelt, das ich das Reaktive Weibliche System (RWS) nenne. Um überhaupt ein wenig an der Macht zu partizipieren, erklärten sich Frauen bereit, das WMS in keinerlei Weise infrage zu stellen. Es gab strenge Verhaltensregeln und Morallehren, die wir befolgen sollten. (Cherokee-Frauen glaubten natürlich nicht an solche Dinge, und doch versuchten sie, sogar noch stärker als weiße Frauen, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.) Eine Zeit lang suchten also Frauen ihre Sicherheit darin, sich bedeckt zu halten (wortwörtlich) und die Brosamen unterm Tisch aufzupicken.
In den 1960er Jahren riskierten wir Kopf und Kragen beim Kampf um die Bürgerrechte. Anschließend hätten wir niemals mehr dahinter zurücktreten können und es begann sich das zu entwickeln, was ich das sich Entfaltende weibliche System (EWS) nannte. Zuvor hatten wir nicht einmal einen Namen dafür und erkannten es nicht als ein System. Wie bei vielen der großen Bewegungen der Menschheit begann sich bei unseren Versuchen zu wachsen, zu heilen, zu reifen und uns als Spezies zu entwickeln (es war keineswegs ein gerader Weg, es gab viele Umwege, Rückzüge, Stillstände), etwas Neuartiges herauszubilden. Wir sahen ein System Form annehmen, das in meinen Augen auch heute noch in den frühen Phasen der Entwicklung steckt. Damals nannte ich dieses neu entstehende System das sich Entfaltende Weibliche System (EWS). Es war anders als das Patriarchat (WMS) und das Reaktive Weibliche System (RWS). Es war zart und tastete sich vorsichtig voran, und gleichzeitig, das spürte ich, war es uralt und hatte die Unterstützung von all unseren Ahninnen.
Wie gesagt, liegt beim WMS das Zentrum des Universums beim Selbst und in der Arbeit. Alles andere, das existiert, muss auf das Selbst und die Arbeit bezogen und darüber definiert werden. Eine Zeit lang, unmittelbar nach dem, was die zweite Phase des Feminismus genannt wird, hatte ich die Befürchtung, wir hätten den gleichen selbstzentrierten Fokus wie die Männer angenommen und uns und unsere Arbeit allem anderen überstellt. Ich verlor an diesem Punkt meinen Glauben an uns und unsere Weisheit, und vielleicht haben wir uns tatsächlich für eine Weile verirrt bei dem Versuch, mit den Männern in einer Männerwelt zu konkurrieren oder männlicher zu sein als die Männer selbst: Wir agierten uns sexuell aus, wurden zu „Nehmerinnen“, vereinnahmten in unserer Selbstzentriertheit alles, was wir kriegen konnten, und stellten unter Beweis, dass wir ebenso gewalttätig sein konnten wie Männer. Und diese Phase haben wir offen- sichtlich hinter uns gelassen.
Im sich Entfaltenden Weiblichen System stehen das Selbst und die Arbeit nicht im Mittelpunkt der Welt. Im Zentrum des Universums stehen Beziehungen. In diesem Universum schließen Beziehungen alles ein, und alles sind Prozesse – sich bewegende, verändernde, pulsierende Prozesse. Beziehungen sind nie statisch. Auch unsere Welt nicht. Auch wir nicht. Dieser Mittelpunkt umfasst eine Beziehung zu uns selbst, die ebenfalls nicht statisch ist, weil wir ständig wachsen und uns verändern. Diese Beziehung zu unserem Selbst ist ein liebevoller, pulsierender, organischer Prozess, der wächst und sich von Augenblick zu Augenblick, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr wandelt, lebendig ist und – wenn wir uns wirklich voll und ganz darauf einlassen – sehr faszinierend. Er umfasst eine Beziehung zu unserer Arbeit, die wie unser Selbst ein lebendiger, pulsierender, sich verändernder Prozess ist. Der Prozess schließt Beziehungen zu anderen ein – Kindern, Ehepartnern, Freundinnen und Freunden, Kollegen, Pflanzen, Tieren und letztlich zu unserem ganzen Planeten und zum Kosmos.
Wir Frauen haben nicht nur andere Beziehungen zu uns selbst und zu unserer Arbeit als dies bei den Männern im WMS der Fall ist, wir stehen auch mit der gesamten Schöpfung in einer lebendigen, pulsierenden Beziehung. Allmählich lernen wir, diese Beziehungen auf eine Weise zu genießen und zu respektieren, wie wir es im Reaktiven Weiblichen System nie konnten.
Ich machte neulich die folgende Erfahrung. Da ich, wie die meisten Frauen, eine genesende Co-Abhängige bin, musste ich mich zuvor vergewissern, dass meine Reaktion nicht einfach nur ein Anfall von Co-Abhängigkeit war. Ich notierte Folgendes:
Das Wetter ist zurzeit seltsam. Wenn ich eine große Schar Gänse sehe, die gen Norden zu fliegen scheinen, schießt mir durch den Kopf: „Ich bin beunruhigt – ich hoffe, sie sind nicht desorientiert und fliegen um diese Jahreszeit gen Norden.“ Dann der Gedanke: „Schau mal an – co-abhängig – fühle ich mich sogar für die Natur zuständig?“ Darauf folgt schnell ein weiterer Gedanke: „Natürlich bin ich das – warum sollte ich anders denken?“ Ich bin Teil der Natur.
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