1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Als ich Näheres über die „Feministinnen der ersten Stunde“ herausfand, er- kannte ich, dass ich ihnen dankbar sein musste für all die Vorteile, die ich als Mädchen und als Erwachsene in meinem Land hatte, denn ich stand sozusagen auf ihren Schultern. Erst später, als ich viel älter war, befasste ich mich mit den Einzelheiten der Belange, für die sie sich einsetzten (jene Frauen der nachviktorianischen Zeit! – toll!). Wie meine Mutter hatte ich das Recht auf Scheidung, auf den Besitz von Eigentum, ich war frei und ungebunden und konnte gehen, wohin und wann ich wollte. Mein Vater gab ihr nie „die Erlaubnis“ dazu. Sie und ich wurden in unserer Cherokee-Familie als gleichwertig behandelt. Jene Feministinnen der ersten Stunde hatten dafür gesorgt, dass ich hier in den USA jene Rechte unhinterfragt wahrnehmen konnte. Sie setzten sich für Rechte ein, doch ich bezweifle, ob sie bereit waren, sich gegen das System aufzulehnen.
Ich glaube, ich brauchte viele Jahre, um zu erkennen, dass die Rechte der Frauen in den USA erkämpft und erworben werden mussten – sie waren nicht, wie bei weißen Männern, durch die amerikanische Verfassung garantiert.
Als ich bei meinem ersten Besuch in Australien erfuhr, dass die australischen Ureinwohner erst in den 1960er Jahren als menschliche Wesen anerkannt wurden, war ich entsetzt. Doch hatte ich nicht wahrgenommen, dass Frauen erst nach dem Aufstand der ersten Feministinnen die vollen Menschenrechte zugesprochen wurden und dass dies in vielen Kulturen gängige Praxis ist, und oft immer noch die Realität in meinem eigenen Land, den Vereinigten Staaten von Amerika.
Jene erste Phase war also eine Flutwelle und wir werden viele weitere große Wellen brauchen, wenn wir als Menschheit irgendeine Chance haben wollen, unser Potenzial und, wie ich glaube, unser Schicksal zu erfüllen. Denn schon sehr bald konnte ich erkennen, dass auch die Knaben und Männer durch die gegenwärtige Kultur schwer geschädigt wurden und werden. Diesen Schaden einzuge- stehen fällt schwer, weil sich ihr Bewusstsein nicht erweitert hat.
Nachdem ich also eine Zeit lang versucht hatte, die nachfolgenden Phasen des Feminismus zu erforschen – die ich alle durchlebt hatte –, kapierte ich es. Kein Wunder, dass mein Gehirn wie benebelt war und ich mich müde und unbeteiligt fühlte. Es waren wirklich nicht die Informationen, die mir zu schaffen machten (obwohl sie sich manchmal etwas bizarr anfühlten), es war die Form und die Vorgehensweise, in der diese Informationen vermittelt wurden – akademisch/mechanistisch/wissenschaftlich! Man schrieb über unsere Erfahrung – meine Erfahrung – in Form des herrschenden kulturellen Paradigmas, das vom männlichen Paradigma und dem vorherrschenden Paradigma der Wissenschaft gestaltet, geführt und kontrolliert wird. Es sind (um mit Morris Bermans Be- griff zu sprechen) abstrakte, konzeptionelle Informationen, frei von Gefühl, Konkretisierung und Verbundenheit. Die kognitive – ebenso wie die gefühlsmäßige – Unstimmigkeit in diesen Schriften war riesig, besonders da ich all die Phasen des Feminismus durchlebt hatte. Die analytischen, reduktionistischen, linearen, vereinfachenden, dualistischen Informationen und Annahmen konnten in keiner Weise den Reichtum wiedergeben und vermitteln, den ich beim Durchleben des Prozesses dieser Phasen erfahren hatte. Besonders wenn dieser „wissenschaftliche und akademische Ansatz“ beklagenswert unzureichend ist, um die Gefühle, Erfahrungen, Auswirkungen und die Kraft der damit einhergehenden Prozesse darzustellen. Die zum Beschreiben der materiellen Welt entwickelte Wissenschaft versagt kläglich, wenn sie einen wirbelnden, pulsierenden Kosmos von Erfahrungen in leblose, unlebendige Begriffe zu verwandeln versucht.
Vor meinem Vortrag über mein erstes Buch Weibliche Wirklichkeit hatte mir die Professorin eines wohlbekannten, ehemaligen Colleges für Männer in Neu- england einmal privat gesagt, sie sei absolut begeistert von dem Buch, es spreche sie persönlich an und sei ihrer Meinung nach brillant und sehr wichtig. Als sie dann öffentlich auf mich und mein Referat einging, verriss sie das Buch. Ich war hinterher geschockt und fragte sie: „Ich dachte, Sie liebten das Buch. Was ist geschehen?“
„Ich liebe das Buch sehr“, sagte sie. „Ich halte es für ein großartiges Buch – aber – wenn ich das dort, wo ich lehre, sagen würde, würde man mich angreifen und auslachen. Es wird von uns erwartet, dass wir analysieren und kritisieren. Dass wir ein Buch auseinandernehmen, es herabsetzen und Mängel finden. Solche Leute werden gefördert.“
Das war in den frühen 1980er Jahren. Die meisten Bücher, die ich über die Phasen des Feminismus gelesen habe, wurden in den späten 1990er Jahren und im 21. Jahrhundert veröffentlicht. Haben wir nichts gelernt oder sind wir noch weiter in die Glaubenssätze, Denkprozesse und Methodik des dominierenden Systems gerutscht? Manchmal befürchte ich, dass beides zutrifft – ich las sogar eine Rezension über die Schriften einer Frau, die über die Phasen des Feminismus geschrieben hatte – sie wurden als unwissenschaftlich, nicht objektiv und nicht akademisch abgelehnt. Der Verfasser dieser Rezension erklärte weiter, die Beobachtungen dieser Frau seien eher eine Lebenserinnerung und deshalb von keinerlei Nutzen und könnten leicht verworfen werden. (Ich sehe keinen Grund dafür, die eine oder andere dieser Quellen im Verlauf dieses Kapitels zu zitieren.) Ich frage mich, wer das Recht hat, darüber zu bestimmen, welche Daten wichtiger als die anderen sind? Und wer kann sagen, die einen Beweise seien fundierter als andere – je nachdem, wie sie erworben wurden und aus welchem Glaubenssystem sie stammen? Sicher ist die Leserin klug und klar genug, diese wichtige Frage für sich selbst zu beantworten. Und wenn nicht, steht für sie Ar- beit an. Trotz des zuvor Gesagten neige ich zu der Überzeugung, dass Aussagen von Frauen, die über ihre eigenen Erfahrungen sprechen, sehr wohl ihre Gültigkeit haben und mindestens genauso gültig sind wie jede Pseudo-Objektivität, die von den Glaubenssätzen, Denkmustern, Annahmen und Techniken des auf Männer konzentrierten herrschenden Systems durchsetzt ist. Ich glaube auch, dass die Erfahrungen, Einsichten und das innere Wissen der Frauen in sich gül- tige Informationen sind – sicherlich ebenso gültig wie eine Annahme oder Interpretation, die auf dem herrschenden System basiert. Sie sind einfach anders und sollten auch so behandelt werden.
Ich habe es seit Langem aufgegeben, mir Anerkennung oder Bestätigung seitens des herrschenden Systems, in dem wir leben, zu wünschen (oder von irgend- einem System). Das ist einer der wunderbarsten Vorteile, achtzig Jahre alt zu sein.
Ich denke, man wird „objektiver“ (im weiteren Sinn des Wortes), wenn man seine persönliche Arbeit gemacht hat, weniger von seinem Unbewussten regiert wird und mit dem Alter eine breitere Sicht auf das Leben hat, als es das „Objektivsein“ im „wissenschaftlichen“ Sinn ist, das im Allgemeinen die unmögliche Möglichkeit beinhaltet, sich von dem, was untersucht wird, vollständig abzutrennen und sich nicht persönlich darauf einzulassen – außer in der Quantenphysik natürlich. Die meisten von uns, die die grob vereinfachenden Vorstellungen und Einstellungen der mechanistischen Wissenschaft hinter sich gelassen haben, wissen seit Langem, dass diese Art von Objektivität unmöglich ist. Und wird diese Unmöglichkeit geleugnet oder unterdrückt, kann die dadurch verfälsch- te Information sehr gefährlich sein – vielleicht noch gefährlicher als das Fehlen von „Objektivität“.
Was ich jedoch aus meiner Arbeit mit Männern und Frauen weltweit weiß ist dies: Wenn diese sich auf die tiefsten Ebenen ihrer Heilung einlassen – von der Heilung ihrer eigenen persönlichen Themen bis zur Heilung ihrer familiären Belange, der Heilung von den Problemen ihrer Gemeinschaften, der Heilung ihrer institutionellen und gesellschaftlichen Probleme, der Heilung ihrer kulturellen Themen bis zu der Heilung der Probleme, die sie als Angehörige der Menschheit auf diesem Planeten haben –, dann ist dieses Miteinander-Teilen unserer Geschichten, das Durcharbeiten unserer Gefühle und Erfahrungen sowie das Nachdenken über das Gelernte tatsächlich ebenso machtvoll wie alles, was wir denken, begrifflich fassen oder lesen könnten.
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