»Und Sie glauben, ich erkenne ein Gesicht in der Menge wieder, das ich seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen habe? Die Bilder sind wahrscheinlich mit Teleobjektiven aufgenommen.«
»Sie werden überrascht sein, wie gut die Fotos sind, Herr Schaake«, sagte Urbach. »Unsere technische Ausstattung lässt keine Wünsche offen.«
Schaake sah aus dem Fenster. Flaches Land huschte vorüber.
»Wohin fahren wir jetzt?«
»Nach Bonn. Wir haben eine kleine Wohnung vorbereitet. Kennen Sie Bonn?«
»Nicht sehr gut. Eigentlich gar nicht. Ich bin einige Male durchgefahren.«
Eine Wohnung, überlegte Schaake. Warum kein Hotel? Aus Kostengründen? Oder weil man in einer Wohnung ungestörter war?
Oder wollte man ihn überwachen? Jederzeit wissen, wo er war?
»Warum kein Hotel?«, fragte Schaake.
»Wie bitte?«
»Sie haben meine Frage doch verstanden! Warum kann ich nicht in einem Hotel wohnen?«
»In einer Wohnung sind Sie doch unabhängiger. Oder können Sie sich kein Frühstück machen? Keine Angst, Sie können im Café frühstücken Es ist sogar gut, wenn Sie unter Leute kommen.«
»Weil ich ihn dann zufällig treffen kann?«
»Es wäre immerhin möglich. Bonn ist ein Dorf.«
Schaake sah wieder nach draußen. Als er in Aachen studierte, war er einige Male in Bonn gewesen, und danach noch ein- oder zweimal. Sie hieß Sigrid, an mehr konnte er sich nicht erinnern. Jetzt sah alles anders aus. Die Autobahn, die Bonn mit dem Flughafen verband, hatte es damals noch nicht gegeben, auch nicht die Friedrich-Ebert-Brücke. Oder hatte er nicht darauf geachtet? Egal. Als sie das Autobahnkreuz Bonn-Nord erreichten, kannte er sich wieder aus.
Georg steuerte den Wagen in Richtung Innenstadt. Vom Verteilerkreis an hatte sich nicht viel geändert. Gleisanlagen, eine Straßenbrücke, das Schwimmbad. Schmale, von Rotdorn und Linden gesäumte Einbahnstraßen. Das Laub glänzte in spätsommerlichem Grün, Georg nahm das Gas zurück. Er bog in eine schmale Seitenstraße ein und hielt nach einer Parklücke zwischen den Bäumen Ausschau.
»Das eben war die Kölnstraße«, erklärte Urbach. »Bis zum Markt sind es nur fünfzehn Minuten zu Fuß.«
Georg rangierte den Granada rückwärts in eine Parktasche. Die hintere Stoßstange berührte ganz leicht den Mast mit der Parkuhr.
»Ich habe nicht die Absicht, viel zu Fuß zu gehen«, sagte Schaake, der sich irgendwie ärgerte. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er aus dieser Sache, die gestern wie ein Spiel ausgesehen hatte, nicht herauskommen würde, ohne Schaden zu nehmen. »Ich dachte, Sie hätten wenigstens einen Wagen für mich.«
Urbach lächelte dünn, als er die Tür auf seiner Seite aufstieß.
»Sie wollen Ihren Vorteil wahren, wie? Wollen Sie auch Geld? Eine Prämie, wenn...«
Eine jähe Wut umnebelte Schaakes Sinne. Er stieß die Hände vor, packte Urbachs Jackenaufschläge und zog ihn mit einem Ruck zu sich heran. Urbachs Kopf flog in den Nacken, aber er überwand den Schrecken sehr schnell. Mit einer heftigen Bewegung sprengte er Schaakes Arme. Georg warf sich über die Lehne des Fahrersitzes und packte Schaakes Schulter. Schaake ballte die Fäuste. Urbachs Gesicht nahm er nur verschwommen wahr. Er versuchte, die Benommenheit abzuschütteln.
So war das also. Urbach betrachtete ihn als einen miesen kleinen Verräter. Einen Burschen, mit dem sie umspringen konnten, wie sie wollten.
Er atmete tief durch, sein Blick klärte sich. Urbach sah ihn abwägend, mit einem schwer zu deutenden Ausdruck, in den hellen Augen an.
»Wenn Sie das so sehen, steige ich aus«, erklärte Schaake. Seinen Worten fehlte die Überzeugungskraft. Wem konnte er seine Kündigung erklären?
»Sie können nicht mehr aussteigen, mein Lieber. Keine Empfindlichkeiten. Unser Geschäft ist nicht schmutziger als andere auch. Kommen Sie endlich.«
Urbach stieg einfach aus, und Georg öffnete die Tür auf Schaakes Seite, als der nicht sofort mit dem Riegel zurechtkam. Die Kindersicherung, schoss es durch seinen Kopf. Absicht? Zufall? Sah er schon Gespenster?
»Ich kümmere mich um Ihr Gepäck«, sagte Georg beschwichtigend.
Schaake trat neben Urbach. »Ich kann vielleicht nicht einfach aussteigen, aber ich kann stur sein«, sagte er.
»Wie meinen Sie das?« Urbach blickte betont uninteressiert an der Fassade des vierstöckigen Wohnhauses, vor dem sie parkten, hinauf.
»Ich werde meine Bedingungen von Fall zu Fall nennen«, sagte Schaake
»Sie wohnen im dritten Stock. Aber kommen Sie. Ich will Ihnen etwas zeigen.«
Urbach ging auf die schmale Durchfahrt zu, die hinter das Haus führte Das Gittertor stand offen. Die zementierte Hoffläche wies Risse auf, in denen Unkraut wucherte. An der Mauer zum Nachbargrundstück standen einige Personenwagen. Urbach deutete auf einen grünen BMW 318 mit Bonner Kennzeichen.
»Den können Sie benutzen, wenn Sie unbedingt in der Gegend herumkutschieren müssen. Zufrieden?« Urbach zog eine Handvoll Schlüssel aus seiner Tasche und gab Schaake die Schlüssel für den BMW. »Die Zulassung liegt im Handschuhfach. Wenn Sie tanken, legen Sie die Quittung zu den anderen. Kommen Sie mit.«
Urbach schloss die Hintertür auf. Er ließ Schaake an sich vorbei und schloss wieder ab. Über sich hörten sie Georg, der den Vordereingang benutzt hatte, und sich jetzt mit den Koffern abschleppte.
»Einen Lift gibt es hier leider nicht«, sagte Urbach.
Mit federnden Schritten, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, stieg Schaake die Treppen hinauf. Als er oben ankam, drehte er sich nach Urbach um. Urbachs Atem ging schneller, sein Hals rötete sich. Schaake verzog die Lippen zu einem Lächeln. Er spürte einen leichten Triumph, weil er dem anderen seine körperliche Überlegenheit demonstriert hatte.
Die Wohnung bestand aus vier Zimmern, einer Küche, der Diele und dem Bad. In jedem Raum, auch in der Küche und im Bad, befand sich ein Telefonapparat. Im Wohnzimmer standen einige Stühle, die nicht zueinander passten, und ein Fernsehapparat. Das nächstgrößere Zimmer, das einer Familie vermutlich als Schlafzimmer gedient hätte, war wie ein Büro eingerichtet. Es gab einen kleinen Schreibtisch und ein hohes Regal, dessen Fächer mit flachen Kunststoffkästen voll gestellt waren. Auf einem länglichen Konferenztisch standen ein Diaprojektor und ein Tonbandgerät. An der Decke war eine Leinwand befestigt, die mit Schnüren auf- und abgerollt werden konnte.
Georg stellte Schaakes Koffer in den Raum neben dem Bad. Das Bett und ein schmaler Schrank stellten die einzigen Einrichtungsgegenstände dar. Die Fenstertür führte auf einen winzigen Balkon hinaus. Das Telefon stand auf dem Boden.
Schaake öffnete die Tür zum vierten Zimmer. Hier stand links und rechts je ein doppelstöckiges Bett. Eins der beiden unteren Betten war bezogen, auf dem anderen lag ein Hartschalenkoffer. Schaake drehte sich um und sah Urbach an.
»Georg schläft hier. Alle zwei, drei Tage hat er einen Tag frei. Dann werden Sie das Vergnügen meiner Gesellschaft haben.«
Schaake schüttele den Kopf. »Nein«, sagte er.
»Wie – nein?«
Jetzt endlich war Urbach beunruhigt. Wenn Urbach eben nicht die dumme Bemerkung über Schaakes Motive gemacht hätte, hätte Schaake jetzt nicht die Grenzen seiner Möglichkeiten erprobt.
»Sie haben erklärt, ich könne nicht mehr aussteigen, und ich habe gesagt, ich würde meine Bedingungen steilen. Nun denn – ich werde keinen Aufpasser akzeptieren.«
»Von einem Aufpasser kann keine Rede sein!«
»Sie können das nennen, wie Sie wollen, Ich bin aus dem Alter raus, in dem ich mit anderen die Wohnung teile.«
»Herr Schaake! Mann, seien Sie doch vernünftig! Es ist einfacher für uns alle wenn...«
»Nein!« Schaake hatte nicht die Absicht, sich auf Diskussionen einzulassen. Er stieß die Tür zu dem Zimmer auf, das man ihm zugedacht hatte Die Tür krachte gegen die Wand. Schaake nahm seine Koffer auf. »Ich ziehe in ein Hotel, und wir können uns dann hier treffen.« Er wuchtete die Koffer in den Flur.
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