„Jacques, bitte beruhige dich, es gibt keinen Grund, dass irgendjemand etwas über diese Geschichte erfährt.“
Helfiger klang ungehalten.
„Wenn du dich nicht beruhigst, lenkst du nur unnötig Aufmerksamkeit auf dich, machst Fehler, und niemand versteht, warum du so nervös bist.“
„Ja, ich weiß, du hast Recht. Ich mache mir zu viel Gedanken“, schloss Durrance das Telefonat.
Die Sitzungspause war fast vorbei, und die Verwaltungsräte kehrten in das Zunftzimmer zurück. Der Präsident eröffnete die Aussprache. Fast alle Verwaltungsratmitglieder begrüßten eine Übernahme und sahen mehr Vor- als Nachteile auf SEEDAGRO zukommen. Die Verhandlungen mit TELMAR CHEMIE & PHARMA sollten auf jeden Fall aufgenommen werden, um die eigenen Positionen und Vorstellungen optimal durchzusetzen. Ein Verwaltungsratsmitglied war gegen die Übernahme, da er darin den Ausverkauf eines weiteren Schweizer Unternehmens an Ausländer sah. Er votierte für die Unabhängigkeit des Unternehmens. Die abschließende Abstimmung ergab eine großzügige Zweidrittelmehrheit für die Annahme des Angebots. Der Verwaltungsrat beschloss einen Verhandlungskatalog und delegierte diesen Punkt an die Unterhändler des Verhandlungsteams, das aus dem CEO, dem Finanzchef sowie zwei Verwaltungsräten unter Hinzuziehung einer renommierten Kanzlei bestand, mit dem Auftrag, möglichst viele der beschlossenen Forderungen durchzusetzen.
14. Den Haag (Niederlande); April 2016
Marcel Krüger war auf dem Weg ins Hauptquartier. Der Himmel war heute Morgen mit Wolken verhangen und auf den vorhergesagten Regen konnte man sich hundertprozentig verlassen. Schmuddelwetter konnte einer Stadt wie Den Haag nichts anhaben. Auch wenn alles Grau in Grau versank, behielten die Straßen und Häuser ihren bunten und heimeligen Charakter. Starker Wind kam von der Küste auf, zerrte an den noch kahlen Bäumen und ließ die an Seilen gespannten Straßenlampen schaukeln. Der Verkehr in der Stadt schien geradewegs auf den tiefen Barometerstand mit Stillstand zu reagieren. Nur wenige Meter kroch die Autoschlange jeweils vorwärts, um sofort wieder für mehrere Minuten zu verharren. Krüger reckte sich, streckte den rechten Arm hinter die Kopfstütze des Nachbarsitzes und trommelte zur Musik aus dem Radio. Er fühlte sich immer noch müde. Seine Ankunft am vergangenen Abend auf dem Amsterdamer Flughafen Schipol hatte sich um vier Stunden verspätet, und auch die Rückfahrt nach Den Haag spätnachts war mühsam. Die Tagung über Pflanzengenetik in Oslo war gut besucht. Seine Tarnung als freier Wissenschaftsjournalist ermöglichte ihm auch den Einblick hinter die Kulissen. Das gehörte zu seinem Job.
Schließlich erreichte er die Tiefgarage. Er suchte unter den vielen Parkplätzen, die alle mit International Business Consulting ausgeschildert waren, einen freien Platz. Die Etagenwahl im Aufzug ließ sich nur mit einer Codekarte aktivieren. Im dritten Stock öffnete sich ein heller Korridor. Er wandte sich nach links und gab einen Zugangscode an der Eingangstüre ein, über der ebenfalls ein Schild mit Firmenemblem und dem Schriftzug International Business Consulting angebracht war.
Nadine drückte schon den Türöffner.
„Guten Morgen Nadine“, sagte er galant und machte am Empfangstresen Halt.
Nadine war eine junge Holländerin mit blauen, verträumten Augen. Lächeln und Freundlichsein war ihr anscheinend angewachsen.
„Guten Morgen, Marcel“, flötete Nadine und legte ihm seine Post auf das Pult. „Bitte gehen Sie gleich durch zu Olaf. Er erwartet Sie dringend.“
Wenig später stand er im Vorzimmer seines Chefs Olaf Nefels. Frau Helder begrüßte ihn. Sie sah ihn prüfend an, zog eine Augenbraue runter, die andere rauf, legte den Kopf schräg und fragte:
„Besser gleich einen Kaffee, Herr Krüger?“
„Oh ja, bitte“ murmelte er.
Sie goss frischen Kaffee in eine kitschige Porzellantasse.
„Wissen Sie, schon den ganzen Morgen ist hier der Teufel los“, sagte sie. „Sie sind schon der Vierte, der mit hängenden Schultern ankommt, und wahrscheinlich auch wieder so rausgeht. Mein Mutterinstinkt ist auf höchster Alarmstufe.“
„Worum geht es denn eigentlich? Wer war denn schon alles hier? Falls Sie das verraten dürfen!“
Sie holte tief Luft und setzte eine wichtige Miene auf, als das Telefon läutete. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ein privater Anruf. Was führt eine solche Frau für ein Leben, dachte er? Sie lehnte sich entspannt in den Stuhl, drehte und pendelte darin vergnügt umher und schien ihn vergessen zu haben.
Wie oft war er schon durch dieses Vorzimmer gegangen? Seit vier Jahren machte er diesen Job. Achtzehn Monate dauerte die Vorbereitung bei einem Geheimdienst. Bis zuletzt wurde unter den Kandidaten ausgesiebt. Man wählte nur unter Frauen und Männern mit zwei Studienabschlüssen aus, die in hervorragender körperlicher Verfassung waren und deren Vergangenheit keine dunklen Geheimnisse barg. Er hatte einen Abschluss in Business Administration und war Doktor der Biologie. Vor ihm waren keine Datenbank und kein Computer sicher. Gerade kürzlich war er in das Datenverarbeitungssystem einer sehr berühmten Architektensozietät eingedrungen und hatte dort die elektronischen Besprechungsniederschriften gefunden, die davon handelten, wie alle Beteiligten erhöhte Rechnungen an die EU stellen können. Dabei sollten die Architekten eigentlich Renovierungsarbeiten an einem Weltkulturerbe überwachen. Auch der Auftraggeber, eine nationale Denkmalverwaltung und ein eigens gegründetes, internationales Baukonsortium steckten mit unter der Decke. Insgesamt sollten über siebzig Million Euro in private Taschen fließen. Mit seinem Partner Adrian Holmark hatte er schon einige gefährliche Abenteuer bestanden und vielen Subventionsbetrügern das Handwerk gelegt. Obwohl Holmark von Berufs wegen der theoretischen Physik anhing, war vor ihm keine Tür sicher, keine Alarmanlage ein Hindernis, und kein Tresor konnte vor ihm sein Geheimnis verbergen. Mit seiner Ausbildung als Finanzfachmann legte er auch den subtilsten Bilanzfälscher aufs Kreuz.
Die Sprechanlage schnarrte.
„Ist Marcel schon da?“
„Ja, Herr Nefels.“
„Dann schicken Sie ihn bitte rein. Ich will nicht mehr durch Telefonanrufe gestört werden.“
Marcel trank den Rest lauwarmen Kaffee aus.
„Schade, Frau Helder, das hätte ein schöner Tag werden können.“
„Guten Morgen, Olaf“, begrüßte er Nefels.
Nefels ging lächelnd auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. Nefels war ein schlanker, älterer Herr mit grau melierter Napoleonfrisur, einem kantigen Gesicht mit blauen Augen und hochgekrempelten Hemdsärmeln. Alle, die Nefels begegneten, waren von seiner Ausstrahlung begeistert. Er konnte wie ein spektakulärer Motivator oder wie ein sanfter Guru agieren. Krüger hatte oft das Gefühl, dass bei Nefels die Grenze zwischen seinen sorgsam einstudierten Auftritten und seinem authentischen Wesen oft verschwamm. Alle seine Leute gingen für ihn durchs Feuer. Als Chef des European Investigation Office , kurz EIO genannt, spielte Nefels virtuos auf der Klaviatur der hohen Politik. Das EIO war der direkte Aufklärungsarm der EU und nur dem Kommissionspräsidenten unterstellt. Es hatte in Europa weitgehende Ermittlungsbefugnisse. Nationale Stellen waren zur Kooperation gezwungen, andererseits konnte das EIO jedoch keine Weisungen erteilen, was Zwistigkeiten und Eifersüchteleien Tür und Tor öffnete. Das EIO war gebildet worden, weil die Kommission ein zunehmend eigenes Aufklärungsbedürfnis verspürte, da die gesamte Brüsseler Bürokratie oft ein Spielball der nationalen Egoismen war und Tausende von Lobbyisten massiven Druck auf die politische Willensbildung ausübten, sodass ernstzunehmende Kräfte schließlich die Gründung der EIO durchsetzten, damit die Kommission die Ausübung ihrer Pflichten auf neutrale Informationen und Erkenntnisse abstützen konnte. Obwohl Beratungsfirmen die Kommission in vielen wichtigen Belangen unterstützten und oft die Kärrnerarbeit erledigten, nahm man an, dass auch diese letztlich nie ohne Interessen berieten. Jedoch legte man in der Kommission mehr und mehr Wert auf das völlig unabhängige Urteil und die Auswertungen der EIO. Es bestand derzeit aus zweihundert hochkarätigen Agenten und Experten, die alle unter größtmöglicher Tarnung operierten. Die Kommission hatte als Kompromiss durchgesetzt, dass sie das Recht hatte, die Identität der Agenten nicht preisgeben zu müssen. Das EIO hatte zwei Abteilungen, die eng zusammenarbeiteten: Abteilung I war zuständig für die Sammlung und Aufbereitung von wissenschaftlichen und ökonomischen Daten, Informationen und Statistiken. Hier wurde das bisher größte Wissensarchiv der EU-Kommission angelegt, auf das natürlich die verschiedenen Direktorate auch organisierten und hoch gesicherten Zugriff bekamen. Abteilung II war unmittelbarer an die Kommissionsarbeit gekoppelt und diente zum Beispiel der Industriebeobachtung, Verhinderung von Kartellbildung, Erkennung von staatlichem Statistikbetrug und Subventionsbetrug. Bei den Ermittlungen wurde auf eine enge Verzahnung mit EUROPOL geachtet. Allerdings war diese Keimzelle einer europäischen Polizeibehörde immer noch eine Maus in Ketten. Inzwischen beruhte die Macht der Kommission in sehr starkem Maße auf unabhängigen Informationen und Ermittlungen des EIO. Dem EIO war es zu verdanken, dass Griechenland des Statistikbetruges überführt wurde, weil es jahrelang gefälschte Indikatoren über die griechischen Staatsfinanzen geliefert hatte und deshalb von vornherein in den Euroclub aufgenommen wurde. Das EIO führte aufgrund eigener Ermittlungen der Kommission sehr drastisch die Rechtsrealität, die in der Türkei vorherrschte, vor Augen und lieferte damit der Kommission die notwendigen Argumente, damit sie die türkische Regierung mit großem Nachdruck zu grundständigen Reformen auffordern konnte. Erst jüngst wurde auch die Bundesrepublik Deutschland unsanft aus dem Dornröschenschlaf geweckt: Es waren die EIO-Ermittler, welche den laschen Umgang der Deutschen mit Gammelfleisch ins Rampenlicht der Öffentlichkeit rückte und die notwendigen Hinweise lieferten. Die öffentlich bekannte - und in Wirklichkeit viel größere - Zahl an unbekannten Erfolgen des EIO stärkte die Stellung von Direktor Nefels und seinem Team. Das EIO wurde durch einen Kontrollrat, der aus fünf ausgewählten Innenministern bestand, beaufsichtigt. Alle zwei Jahre wählten die EU Innenminister diese fünf Kontrollratsmitglieder aus ihren Reihen. Der Tätigkeitsbericht des EIO blieb unter Verschluss und wurde nur den Regierungschefs und Innenministern vorgelegt.
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