Zoé steht auf und dreht sich auf der Ferse im Kreis.
»Alles gut! Ich kann ja auf der Hacke laufen und außerdem tut er fast nicht mehr weh!«
Die Freundinnen nehmen ihre Lieblingsdecken und machen sich auf den Weg in die untere Etage. Dort lebt Pippa mit ihrer Familie in der Hausmeisterwohnung, die über fünf große Zimmer, eine Küche und zwei Bäder verfügt. Die Schüler treffen sich dort oft zu gemütlichen Fernsehabenden oder zum Karten spielen. J.J. drückt auf den Klingelknopf und wartet. Als Pippa ihr die Tür öffnet, will sie ihr wie immer in die Arme springen, aber sie hält inne, als sie bemerkt, dass das Hausmädchen dicke, rot verweinte Augen hat.
Pippa strengt sich an, ein natürlich wirkendes Lächeln aufzusetzen, was ihr jedoch nicht gelingt. Sie geht zu J.J. und drückt sie fest an sich. Und weil es ihre Art ist, alle Kinder gleich zu halten, nimmt sie Zoé mit dazu.
»Schön euch zu sehen. Aber kommt doch erstmal herein.«
Zoé, von der gerade noch die Augen über Pippas Oberarme ragen, nuschelt:
»Wenn du uns loslässt, wäre das unser Plan gewesen!«
Pippa lacht auf und entschuldigt sich.
»Tut mir leid. Ich habe heute einen schwachen Tag. Nun kommt doch endlich herein!«
Pippas Reich ist das gemütlichste Heim, das J.J. kennt. Zuerst betreten sie die helle Diele, an deren Ende sich die große Küche befindet. Dort sitzen Cassidy und Frida, Pippas Töchter, am Tisch und schnippeln schlecht gelaunt frisches Gemüse. Als sie die beiden entdecken, nicken sie müde und zeigen mit den Köpfen auf die Stühle neben sich.
Die beiden sind zweieiige Zwillinge und gehen in die 7. Klasse. Außer ihren Eltern haben sie eigentlich nicht viele Gemeinsamkeiten. Cassidy ist groß, blond, schlank und kommt ganz nach ihrem Vater. Sie ist immer freundlich, aber sehr ruhig und hilft lieber im Garten als in der Küche. Frida dagegen ist klein, hat kräftige dunkle Haare und ist wie ihre Mutter etwas fülliger. Sie strahlt den ganzen Tag mit der Sonne um die Wette und hilft sehr gern bei den Hausarbeiten. Pippa betont immer, wie sehr Gott sie doch lieben muss. Sie brauchte nur einmal schwanger zu sein und hat gleich zwei wunderbare Kinder zur Welt gebracht, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Dann drückt sie ihren Töchtern immer einen dicken Schmatzer auf die Stirn.
Außer ihnen lebt hier noch Backboard, der kleine Dackel. Er ist mittlerweile schon ein Senior und halbblind. Aber er ist der Campushund und alle Schüler lieben ihn. Schließlich gibt es da noch Fred, Pippas Ehemann, der gleichzeitig Hausmeister und Gärtner des Campus ist. Er ist das ganze Gegenteil von Pippa. Groß, schlank, blond und raucht für sein Leben gerne Zigarren. Mrs. Rogan schimpft immer wie ein Rohrspatz, wenn sie ihn dabei erwischt. Aber Fred ist ein fröhlicher Mensch und läuft stets pfeifend oder summend über den Hof. Jetzt sitzt er im Wohnzimmer und versucht einen großen Berg Weihnachtslichterketten zu entknoten. Zoé und J.J. winken ihm zu und gehen zurück in die Küche, wo Pippa gerade Limonade einschenkt.
»Kommt schon her. Wir kochen ein Gemüsechili und danach gibt es selbstgemachte Chips. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr den beiden Mädchen helfen!«
Sie setzen sich und helfen Frida und Cassidy beim Gemüseschneiden. Frida fixiert J.J. eine Weile, bis es plötzlich aus ihr herausplatzt:
»Du verbringst die Ferien also nicht bei uns? Das ist wirklich schade. Wir haben uns schon so darauf gefreut!«
J.J. hält inne und sieht verwirrt in die Runde.
»Woher wisst ihr das? Ich habe den Brief doch erst vor einer Stunde bekommen!«
Sie legt ihr Messer beiseite und sieht zu Pippa, die mit ihren Augen gerade giftige Pfeile in Fridas Richtung sendet.
»Du bist ein altes Plappermaul, Frida! Ich habe euch gebeten, dass ihr mich das alleine machen lasst! Ihr seid echt unmöglich!«
»Ja, das stimmt! Wir sind eben ganz unsere Eltern«, antworten beide Töchter im Chor und lachen los.
J.J. ist nicht zum Lachen zumute. Sie steht auf und geht zu Pippa.
»Also, woher weißt du es?«, fragt sie trotzig.
Pippa eilt zum Küchenschrank und holt einen Brief aus der obersten Schublade. J.J. ist erstaunt, da er genauso aussieht wie der, den sie bekommen hat, nur dass dieser an ihre Ziehmutter gerichtet ist.
Sehr geehrte Frau Pippa.
Ich möchte Ihnen von ganzem Herzen danken, dass Sie sich in den letzten Jahren so aufopferungsvoll um meine Enkelin gekümmert haben! Mrs. Rogan hat mir berichtet, dass Sie ihr stets eine gute Freundin waren und sie behütet haben, als wäre sie Ihr eigenes Kind.
Ich möchte Ihnen versichern, dass ich das bis zum Ende meines Daseins nicht vergessen werde.
Ich kann nicht verlangen, dass Sie verstehen, warum ich mich erst jetzt melde.
Aber ich möchte Sie trotzdem um die Erlaubnis bitten, meine Enkelin diese Ferien zu mir holen zu dürfen. Wie mir Mrs. Rogan berichtete, hat Jezabel die Ferien sonst immer mit Ihrer Familie verbracht und auch die kommenden Feiertage haben Sie wohl mit ihrer Anwesenheit gerechnet.
Deshalb möchte ich mich für diese kurzfristige Entscheidung entschuldigen und hoffe, dass Sie mich eines Tages verstehen können.
Ich werde Jezabel am Freitag gegen Nachmittag abholen, und sofern sich meine Hoffnung erfüllt, wird sie die gesamten Ferien auf meinem Anwesen in Havelock verbringen.
Es grüßt Sie herzlichst
Ophelia V. P. U. Gräfin von Winterhardt
PS: Vielleicht könnten Sie mir einen Tipp geben, was meine Enkelin am liebsten mag.
J.J. faltet den Brief zusammen und drückt ihn Pippa genervt in die Hand. Die streicht ihn sorgfältig glatt und legt ihn zurück in die Schublade.
»Jezabel. So ein wunderschöner Name. Warum hast du ihn mir nie verraten?«, flüstert sie traurig, sodass J.J.sich plötzlich richtig mies fühlt. Bockig stellt sie sich in die Küche.
»Was soll das alles? Ich habe es schon Zoé erklärt. Ich hasse diesen Namen! Ich verstehe nicht, warum sie sich all die Jahre nicht bei mir gemeldet hat und jetzt verlangt, dass ich springe. Es sind Weihnachtsferien! Ich bleibe nur ein Wochenende und komme dann wieder zu euch zurück! Ich kenne sie doch gar nicht!«
Pippa stemmt empört die Hände in die Hüfte.
»J.J. Smith, das ist deine Großmutter! Ich denke, dass du dir erst einmal anhören solltest, was sie dir zu sagen hat! Danach kannst du sie immer noch verurteilen!«, erwidert sie entrüstet.
»Ich bin von Gott mit so viel Glück beschenkt worden. Ich wohne an diesem wundervollen Ort, habe diese wunderschöne Familie und lebe mit den begabtesten Kindern der Welt zusammen. All die Jahre habe ich gebetet, dass du auch ein wenig davon abbekommst. Ich liebe dich wie mein eigenes Kind, J.J. Aber ich kann dir die Antworten, die du brauchst, nicht geben! Die findest du nur dort draußen! Egal, ob morgen oder heute, wichtig ist nur, dass deine Großmutter dich wiedergefunden hat und du sie kennenlernen darfst. Ich bin nur traurig, weil es für mich das erste Mal ist, dass ich in den Ferien einen Teller weniger auf den Tisch stelle. Ich werde dich vermissen. Sehr sogar! Aber ich bin auch sehr glücklich, dass du ein Stück Normalität zurückbekommst!«, fährt sie besonnen fort.
Bei dem Wort »Normalität« muss J.J. schlucken.
»Wenn du wüsstest! In meinem Zimmer liegt ein Stein, mit dem ich in andere Welten reisen kann«, verunsichert sieht sie zu Zoé.
Die rettet die Situation, indem sie ihr Gesicht schmerzlich verzieht.
»Pippa, mir ist vorhin eine Vase auf den Fuß gefallen. Könntest du mal nachsehen, ob er noch zu retten ist?«, wirft sie laut in den Raum und streckt den Fuß mit dem großen Eisbeutel nach oben. Dabei verzieht sie das Gesicht ganz theatralisch. Das ist Pippas Stichwort! Seufzend eilt die Hausdame nach vorn und befiehlt Frida, sofort aufzustehen, damit Zoé den Fuß darauf legen kann. Sacht löst sie den selbst gebastelten Verband und begutachtet die Verletzung. Daraufhin holt sie eine grüne Flasche und saubere Tücher aus dem Medizinschrank.
Читать дальше