Da ich die Sache nicht mehr aufschieben wollte, meldete ich mich schon am frühen Morgen – vielleicht etwas zu früh – bei meinem noch recht verschlafen klingenden Bruder.
„Warum, zum Teufel, rufst du hier um kurz nach sieben an, wer ist gestorben?“, reagierte er zunächst etwas ungehalten.
Ich erklärte ihm, dass eher das Gegenteil der Fall war: „Wir haben es mit einer Wiederauferstehung zu tun. Mama steht bei mir in der Besenkammer, und das ist jetzt echt kein Joke.“
Mein Bruder stöhnte genervt auf. „Mein Gott, was hast du asoziales Stück Scheiße dir denn jetzt schon wieder reingepfiffen?“
Asoziales Stück Scheiße? Diese Verbalattacke gefiel mir überhaupt nicht. Ich entschied mich, ihm für diesen Ausspruch gelegentlich mal die Fresse zu polieren. Aber erst sollte er mir ja helfen.
„Ich hab nur ein paar Bier getrunken, von den Drogen bin ich schon lange runter.“
Wieder war ein lang gezogenes Stöhnen zu vernehmen.
„Nun gut, einschlafen kann ich jetzt eh nicht wieder. Ich sammle ein paar Medikamente zusammen, die dir helfen werden, und komme gleich mal auf einen Sprung vorbei.“
Das war es, was ich hören wollte. Gerd-Dieter stand dann auch nach ca. einer Stunde bei mir auf der Matte. Nach einer kurzen – nicht besonders herzlichen – Begrüßung führte ich ihn zur Besenkammer, in der Mutter nach wie vor unveränderter Position herumstand.
„Also, ich zumindest sehe Mutter …“, sagte ich zu meinem Bruder, der neben mir stand und leichenblass geworden war. Die Fassungslosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„I-ich se-ehe s-sie auch …“, stammelte er.
Ich führte den zitternden Gerd-Dieter behutsam zu meiner Sitzgruppe, in die er sich kraftlos fallen ließ.
„Ich denke, trotz der frühen Uhrzeit können wir beide einen halbtrockenen Rotwein vertragen, oder?“, schlug ich vor. Gerd-Dieter legte keinen Einspruch ein, vielleicht fehlte ihm dafür aber auch einfach nur die Energie. Der Kerl sah aus wie ein Kranker auf dem Sterbebett.
Nach dem Glas Rotwein ging es ihm schon gleich viel besser, ein zweites lehnte er unter Verweis auf seine dadurch gefährdete Fahrtüchtigkeit indes ab. Er war immer schon der Vernünftigere von uns beiden gewesen.
„Okay, Mutter steht also bei dir in der Besenkammer. Das ist natürlich merkwürdig und für mich im Moment auch noch nicht rational nachvollziehbar. Was ich aber absolut nachvollziehen kann, ist, dass Mama bei dir in der Besenkammer steht. Du wurdest immer schon von ihr bevorzugt, dir wurde alles in den Arsch geblasen, während ich mir alles hart erarbeiten musste! Eine gerechte Mutter würde das alles ganz anders machen, die würde montags bei dir in der Besenkammer stehen, dienstags dann in meiner, mittwochs wieder in deiner und so weiter und so fort. Aber das ist mal wieder typisch für sie – und das sage ich ihr jetzt auch!“
Daraufhin ging er zügig entschlossenen Schrittes zur Besenkammer und faltete Mutter zusammen, wie sie es wohl zu Lebzeiten nie erdulden musste. Gerd-Dieter war mit seiner Gardinenpredigt nach etwa zwei Minuten fertig und stolzierte mit mittlerweile hochrot gewordenem Kopf, den er triumphierend in die Höhe reckte, zur Sitzgruppe zurück.
„Ich nehme dann doch noch ein kleines Gläschen, wenn es keine großen Umstände bereitet …“
Ich schenkte ihm wunschgemäß nach und guckte dann nach Mutter. Eine Träne lief ihre linke Wange herunter, Gerd-Dieters Ansprache hatte ihre Wirkung also nicht verfehlt. Ich wischte ihr mit einem sauberen Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht, was sie mit einem dankbaren Lächeln quittierte.
„Möchtest du nicht doch lieber rauskommen, Mutter? Wir können uns doch dann über alles unterhalten, Gerd-Dieter hat da vielleicht auch in dem einen oder anderen Punkt etwas übertrieben.“
„Ich bleibe hier im Schrank stehen – wann kapierst du das endlich?“
Ich schloss die Tür recht unsanft und ging wieder zu meinem Bruder.
„Was machen wir mit ihr? Sie weigert sich, aus der Kammer herauszukommen.“
„Keine Ahnung … Muss sie denn nicht mal was essen oder auf die Toilette gehen?“
Gute Frage … Ob sie wohl gelegentlich ihr Kämmerchen verließ? Ich war ja schließlich nicht den ganzen Tag in Reichweite, um das überwachen zu können. Mein Bruder trank sein Glas aus und blickte auf das Display seines Smartphones.
„Ich muss jetzt jedenfalls los, wir sind um elf Uhr zum Brunch verabredet. Ich denke, Mutter ist vorerst bei dir gut aufgehoben. Du hast ja auch den besseren Draht zu ihr und außerdem deutlich mehr Zeit als ich.“
Interessant – woher wollte er das mit der Zeit überhaupt wissen? Gerd-Dieter erhob sich schwungvoll und verabschiedete sich von mir mit einem festen Händedruck.
„Halt die Ohren steif und melde dich, wenn sich mit Mutter irgendwas Besonderes ereignet.“
Im Flur blieb er dann abrupt stehen, offenbar war ihm noch etwas eingefallen, denn er schlug sich mit der flachen Hand an seine Denkerstirn und kehrte raschen Schrittes in meine Wohnung zurück.
„Ich Trottel habe doch glatt die medizinische Untersuchung vergessen! Wann hat man denn sonst schon mal die Gelegenheit, eine quicklebendige Leiche vor die Flinte zu bekommen?“
Als ich dazukam, war er gerade dabei, an Mutters rechtem Arm die Gummimanschette aufzupumpen, um ihren Blutdruck zu messen. Sie verdrehte genervt die Augen, ließ die Prozedur aber ohne Gegenwehr über sich ergehen. Mein Bruder zog das Standardprogramm durch: Blutdruck, Puls, Abhören der Lunge.
„Machst du mal bitte den Mund ganz weit auf und sagst ‚Aaaaaa‘, Mutter?“
Er knipste seine Minitaschenlampe an und guckte ihr in den Hals. „Nun“, führte er aus, „du hast weder Puls noch Blutdruck, dafür aber einen geröteten Rachen. Das könnte auf eine beginnende Sommergrippe hindeuten. Du solltest viel trinken, am besten ungesüßte Tees, Wasser oder Säfte. Wenn du Kopfschmerzen bekommst, lass dir von meinem Bruder eine Ibuprofen oder Paracetamol geben. Ansonsten kann man da nicht viel machen, du solltest dich schonen, dann wird das schon wieder.“
„Ja, nicht das sie uns noch wegen einer verschleppten Erkältung wegstirbt“, merkte ich sarkastisch an.
Gerd-Dieter ignorierte meine Bemerkung und räumte seine Utensilien wieder zurück in seine Arzttasche, dann gab er mir zum Abschied noch einmal die Hand und machte sich – diesmal aber wirklich – auf den Nachhauseweg.
Ich litt also nicht an irgendwelchen Wahnvorstellungen, das war immerhin schon mal positiv. Aber was machte ich nur mit Mutter? Konnte ich sie einfach so in der Besenkammer stehen lassen oder war das menschenunwürdig? War sie als Tote überhaupt noch ein Mensch? Und gab es überhaupt jemanden, der mir diese Fragen beantworten konnte? Ich legte mich erst mal noch ein Stündchen hin und schlief wie ein Baby, diesmal ohne Albträume.
„Papa hier am Smartphone“, meldete ich mich freudig. Die zusätzliche Dosis Schlaf hatte mir gutgetan, und ich war jetzt bereit, mein Tagwerk mit voller schöpferischer Kraft zu absolvieren.
„Hallo Papa, hier Manfred. Ich hoffe, ich hab dich nicht aus den Federn geholt …?“
„Nein, keine Bange, ich bin hellwach. Für unseren aktuellen Auftrag hab ich mir auch schon was überlegt: Nimm du dir doch bitte mal diesen Road-Captain von denen vor, Stone oder wie die den nennen. Name und Anschrift sollten sich recht easy über das Kennzeichen seines Hobels herausfinden lassen, da hast du ja deine Quellen. M-HD-66 hat er auf dem Nummernschild stehen. Beobachte den mal ein wenig, vielleicht kommt dabei ja was rum.“
So, damit war mein Assistent schon mal beschäftigt. Auf mich wartete jetzt erst mal ein leckeres Frühstück in meinem Stammcafé. Dort konnte man bis vier Uhr nachmittags frühstücken, für Langschläfer also ideal. Euphorisch (woher kam bloß diese gute Laune?) machte ich mich auf zur U-Bahn-Station, die nur ca. hundert Meter von meiner Wohnung entfernt war. Die gute Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel war für mich bei der Wohnungssuche, die mittlerweile drei Jahre zurücklag, ein entscheidendes Kriterium gewesen. Giselastraße, das war meine Heimatstation mit Anbindung zur U3 und zur U6, und bis zum Marienplatz, also dem Zentrum der Stadt, waren es nur zwei Stationen, insofern konnte man meine Wohnlage mit Fug und Recht als zentrumsnah bezeichnen.
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