„Nach meinem Eindruck doch wohl sehr angenehme Konsequenzen“, warf ich ein.
Richard stutzte, sah einige Sekunden durch mich durch und fuhr fort, ohne meinen Einwurf zu beachten: „Wenn die Entscheidung über meinen Rückübertragungsantrag davon abhängt, wie mein Vater zu den Nazis stand – oder genauer: wie die Nazis zu ihm standen -, dann muss nach fast sechzig Jahren einiges gründlich aufgeklärt werden, was zu Lebzeiten meines Vaters aus dunklen Gründen zu den Tabu-Themen in unserer Familie gehörte und danach von mir aus ebenso dunklen Gründen verdrängt worden ist. Hat die mörderische Freisler-Bande ihn zum Tode und zum Einzug seines Vermögens verurteilt, weil sie ihn als Feind des Nazi-Systems einschätzte, oder beruhte das Urteil auf anderen Gründen? War nur das Strafmaß für eine tatsächlich begangene Straftat unangemessen oder hat Vater sich aktiv als Widerständler gegen die Nazis betätigt? Warum wurde das Todesurteil nicht wie damals üblich innerhalb weniger Tage nach der Verkündung vollstreckt? Wieso ist Vaters Unternehmen in jener finsteren Zeit so aufgeblüht? Welche Bedeutung hatte das Grundstück in Rostock für das Unternehmen? Was hat meinen Vater bewogen, es Ende 1938 zu kaufen? - Fragen über Fragen.
Dazu kommt, dass mir seit einigen Wochen mein Vater wieder allgegenwärtig ist. An einem Sonntagmorgen, als ich mal wieder viel zu früh hellwach im Bett lag und mir nur unangenehme Dinge zusammenhanglos durch den Kopf gingen, erinnerte ich mich plötzlich auch an eine Auseinandersetzung mit meinem Vater, die damit beendet worden war, dass er mich in einer ungewohnten Tonlage und mit einem bis dahin nie gesehenen Gesichtsausdruck ‚bockiger Weichling’ nannte ...“
„Bockiger Weichling ...? - Paradox oder ...?“
„Für mich damals nicht. Seltsamerweise. In mir kochte zunächst wieder mal der Hass hoch. Ich war fünfzehn oder sechzehn. Und dies war nur einer von zahlreichen Zusammenstößen gewesen, die ich seit einiger Zeit mit meinem Vater gehabt hatte. Bockiger Weichling – immer dann, wenn ich später eine ganz bestimmte Stimmung bei mir bemerkte, kam mir Vaters eigenartiges Wörtergebilde in Erinnerung. Gleichzeitig hatte ich wieder seinen rätselhaften Gesichtsausdruck vor Augen und hörte seine ungewohnte Stimme. Irgendwann habe ich mir dann eingestanden, dass mein Vater mit diesen zwei Wörtern einen meiner empfindlichsten Nerven verletzt hatte.“
Ich merkte, dass ich drauf und dran war, Richards Gedankensprüngen nicht mehr folgen zu können und mahnte ihn freundlich, zum Kern seines Anliegens zurückzukommen. Er lächelte gequält und murmelte etwas Unverständliches. Ehe ich reagieren konnte, fuhr Richard fort:
„Fest steht, dass diese Grundstückssache eine Riesenchance für mich und vor allem für die ist, die nach mir das Familienbanner hochhalten werden. Wir haben alle nichts zu verschenken. Das Grundstück ist angeblich glatt seine vier Millionen wert. Es gibt keinen Grund, die leichtfertig zu verspielen, aus welchem Trieb auch immer.“
An seinem Bier nippend, blickte Richard über meinen Kopf hinweg versunken ins Leere. Ich sah, dass er noch nicht fertig war und wartete. „Von der anderen Seite der Familienfront fühle ich mich übrigens auch ein wenig bedrängt. Dabei mischt sich wirklich keiner ungebeten ein. Im Gegenteil, meine Söhne reagieren freundlich-nachsichtig, wenn ich das Thema anschneide, als ob die Sache mit dem Rostocker Grundstück so eine Art Altershobby von mir wäre. Ich bin selbst erstaunt, wie es mich irritiert, wenn sie so tun, als ob das ihr eigenes Leben nicht im Geringsten berührte.“
Ich bemühte mich ohne Erfolg, ein ironisches Lächeln zu unterdrücken. Sofort schnappte Richard zu: „Ja, lächle nur diabolisch. Ich weiß, ich weiß! Die Habe, die in einem handlichen Koffer Platz findet, muss ausreichen. Das schafft erst die große Freiheit. Erben und Vererben ist ein Grundübel des Kapitalismus. Ich weiß: Richard Wiedendom, lange vor Achtundsechzig. Vergiss es im Moment mal und geh einfach davon aus, dass ich ganz ordentlich geerbt habe und mich verpflichtet fühle, meinen Söhnen mindestens so viel zu hinterlassen. Je älter ich werde, je gewichtiger wird dieser Gesichtspunkt für mich. Wenn ich mir am Ende eingestehen müsste, dass ich das ererbte Tafelsilber veräußern musste, um so zu leben wie ich gelebt habe – ich fürchte, mein Urteil hieße schlicht und einfach: Versager!“
„Stopp! Geht es nicht weniger dramatisch? Calvinistischer Kapitalismus statt Bildungsbürger-Sozialismus – mach mir nicht weis, dass du still und heimlich übergelaufen bist, das nehme ich Dir nicht ab. Und – Versager: was soll diese sprachliche Giftspritze mit deiner Lebensleistung zu tun haben, Richard?! - Aber lass uns das jetzt nicht vertiefen. Erzähl mir lieber von deinen Söhnen und Enkelkindern.“
Richard sah mich zunächst verblüfft, dann mit einem Ausdruck ironischen Verständnisses für meine Hinhaltetaktik an. „Der Kleine ist gerade frisch verliebt in eine quicklebendige und charmante Betriebswirtin aus Rostock. Die hat Power für Zwei. Sie ist dabei, sich in ihrer Heimatstadt als Unternehmensberaterin zu etablieren. Er ist nach sage und schreibe sechzehn Semestern inzwischen fertiger Architekt und versucht beruflich Boden unter die Füße zu kriegen. Im Moment ist er in Hamburg bei einem Verein angestellt, der die Interessen der Bürger bei der Errichtung eines sogenannten Musterquartiers ermitteln, kanalisieren und an der richtigen Stelle einbringen soll. Scheint ihm großen Spaß zu machen. Aber die Stelle ist nur auf zwei Jahre befristet und vermutlich äußerst mäßig dotiert. Nach so was frag ich ihn natürlich nicht. Das wäre sozialklimaschädlich. Der Verein hängt an der Nabelschnur des Senats. Die genauen Gründe kenne ich nicht. Also nichts mit Zukunftsperspektive. Aber trotzdem: es ist ein Anfang. Heute schwimmt ja so manches, was früher auf festen Füßen stand. Na ja, Walter, wundere dich nur. Du wirst dich noch öfter wundern, nehme ich an.“
Richard schwieg und wollte mir vermutlich Gelegenheit zu einem Kommentar geben. Doch ich wartete schweigend ab. Und ich hatte mich nicht getäuscht, er fuhr nach wenigen Sekunden im gleichen Tonfall fort: „Bernd ist übrigens nach meinem Eindruck fast besinnungslos verliebt. Dennoch widersteht er den Lockungen seiner Liebsten standhaft, mit ihr zusammen in Rostock beruflich was auf die Beine zu stellen. Thomas’ Frau kennst du ja. Ich vermute, dass sie noch immer vom wahren Sozialismus träumt. Für sie ist die Reprivatisierung in der ehemaligen DDR wahrscheinlich insgesamt ein Gräuel. Ihr Herz gehört den Mühseligen und Beladenen. – Ach, falsche Wortwahl. Ich habe sie von Anfang an ins Herz geschlossen und sehe keinen Grund, daran etwas zu ändern. Dass sie ihre Überzeugung nicht nach der Wende im hohen Bogen über Bord geworfen hat, finde ich nicht nur respektabel, sondern sehr sympathisch. Leider haben sich die beiden vor ein paar Monaten getrennt. Thomas ist aus der Familienwohnung in Konstanz ausgezogen und hat eine kleine Wohnung in Friedrichshafen bezogen, seinem Arbeitsort. Die Zwillinge sind im Prinzip bei Hanna in Konstanz. Diese Trennung ist aus meiner Sicht absurd. Thomas und Hanna verstehen sich nach meinem Eindruck besser als die meisten Paare, die ich kenne oder jemals gekannt habe. Aber ich weiß natürlich, dass ich wenig von ihnen als Paar weiß. Sie erzählen mir ungefragt nichts, was sie in ihrer Beziehung umtreibt. Und zu fragen traue ich mich nicht. So ist das nun mal von Generation zu Generation. –
Entschuldige meine Abschweiferei, Walter. Über Silvester und Neujahr werden sie wie eine ganz normale Familie alle zusammen im Kleinwalsertal sein. Ich denke, selbst wenn sonst überhaupt nichts mehr Thomas und Hanna zusammen hielte, würden die Zwillinge schon dafür sorgen, dass es keine Radikal-Trennung mit anschließender Scheidung gibt. Die Zwillinge - ein Traumpärchen. Zehn Jahre. Ein herrliches Alter. Gerade wenn die beiden mir durchs Gemüt ziehen und ich mir die Zukunft mit den Millionen ausmale ... Na ja, schöne Gedankenspielereien einstweilen.“
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