1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 Ich war eine Weile nicht mehr in der Kirche und wenn, dann um meiner Tante Gesellschaft zu leisten, aber ich bin sicher, wenn katholische Pfarrer plötzlich heiraten dürften, hätte ich das schon mitgekriegt. Zudem soll die Messe auch noch in einer Reformierten Kirche abgehalten werden. Mir persönlich ist das alles egal. Aber würde er das wollen? Wir haben beschlossen, ihm eine würdige Beerdigung zu geben, also sollte es auch korrekt ablaufen und nach seinen Wünschen sein, die wir leider nicht kennen. Ob das seinen Wünschen entspricht, ein Beinah-Katholischer Pfarrer und eine Messe in der reformierten Kirche? Ich bin mir da nicht sicher, hab kein gutes Gefühl dabei.
Mit Livia und meinem Schwager Elias fahre ich zum Beerdigungsinstitut. Bei jeder Frage, jeder Entscheidung sagt sie „Sag du.“ „Entscheide du.“ „Was meinst du?“ Ich frag mich, wozu sie überhaupt mitgekommen ist. Ich will auch nicht, dass es am Ende heisst, ich hätte wieder mal den Chef rausgehängt und alles selber entschieden. Ich frage, was denn das für ein katholischer Pfarrer ist, der Frau und Kind hat. Sie erklären es mir, ich verstehe es immer noch nicht. Ich will einen richtigen Pfarrer. Entweder richtig katholisch oder nicht, aber bei so was Halbem hab ich kein gutes Gefühl. Die Frau schwächt das ab, das wäre alles in Ordnung und Livia entscheidet das erste Mal, sie will diesen Pfarrer. Gut, da sie endlich Mal was entscheidet, lasse ich es.
Als wir im Auto auf dem Rückweg sind, sagt meine Schwester plötzlich panisch „Scheisse, es ist nicht richtig. Ich hab grad ein schlechtes Gefühl. Wir können diesen Pfarrer nicht nehmen. Oh verdammt, wir brauchen einen richtigen Pfarrer. Mein Gefühl ist grad ganz komisch.“ Gut, dann kontaktieren wir unseren Pfarrer. Zu Hause telefoniere ich rum, ich hab seine Nummer nicht, auch niemand sonst, den ich kenne. Aber das Hivaseesche Kettentelefon funktioniert gut, um ein Uhr nachts ruft mich unser Pfarrer an. Ich erzähl ihm von diesem verheirateten Pfarrer und der reformierten Kirche, frage, ob das ok ist. Er kriegt fast einen Anfall. Schreit in den Hörer, das geht auf gar keinen Fall, er wird alles übernehmen. Eine Stunde redet er, die meiste Zeit halte ich den Hörer einen halben Meter von meinem Ohr entfernt.
Die Messe wird in unserer Kirche stattfinden, er bietet uns auch den Gemeinschaftsraum für den Leichenschmaus an, statt ins Restaurant, wie ich geplant hab. Er kommt mir sehr entgegen, ich bin dankbar für seine Hilfe, auch wenn ich nach unserem Gespräch fast taub bin. Livia übernachtet bei mir, der Schwager ist nach Hause. Wir schlafen auf dem Sofa, da ich nicht mit offener Türe schlafen kann und sie nicht in mein Bett will. Sie hat Angst, es könnte bei ihrem Gewicht durchbrechen. Für sie müsste ich meine Schlafzimmertür offen halten, das kann ich nicht. Schlafen wir halt beide auf dem Sofa, wobei wir die ganze Nacht quatschen statt schlafen.
Am nächsten Tag gehen wir mit dem Gemeindevorsteher in seine Wohnung. Versiegelung oder wie immer das heisst. Es ist ein trauriger Anblick. Das Bett, in dem er gestorben ist, ist verbeult, man sieht, wo er gelegen hat. In der Wohnung herrscht ein Chaos, es ist sehr staubig. Er hat so viel Schnick-Schnack gesammelt. Ich hatte keine Ahnung, dass er Flohmarktfiguren sammelt. Es sind unzählige, verstaubte Figuren, Gläser, Services, Kuchenplatten, die da rumstehen. Ich sehe mir die Wohnung an, stelle fest, ich hab keine Ahnung, wer mein Vater ist. Überall stehen leere Whiskyflaschen und Medikamente rum. In der Putzkammer sind etwa 50 leere Flaschen auf dem Boden nebeneinander aufgereiht. Auf dem Tisch liegen Papiere, alle Dokumente sind aus den 80-er und 90-er Jahren, aber sie lagen vor ihm, als wären es aktuelle Schreiben. Wir suchen die Unterlagen raus, wo wir ihn überall abmelden müssen. Wir nehmen ein paar Fotos mit. Den Rest wollen wir nicht, wir werden das Erbe ablehnen.
Woran ist er überhaupt gestorben? Die Ärztin meint, am wahrscheinlichsten hat sein Herz einfach aufgehört zu schlagen. Er hatte vor Jahren Krebs und Chemo hinter sich gebracht. Sie hatte vor ein paar Monaten bei der Bauchspeicheldrüse etwas entdeckt und wollte, dass das genauer untersucht wird, aber er wollte nicht mehr. Er wollte gar nicht mehr wissen, was da nicht stimmt. Er hatte keine Kraft mehr, zu kämpfen also bekam er alle möglichen Medikamente gegen die Schmerzen und zusammen mit dem Alkohol hat wohl das Herz einfach aufgegeben. Sie haben ihn nicht obduziert, da es unnötig schien.
In seiner Wohnung geht mir Livia ziemlich auf die Nerven. Sie will wohl, dass der Gemeindetyp ihr Missfallen über die Art, wie ihr Vater gelebt hat, deutlich mitbekommt. Er soll ja nicht auf die Idee kommen, bei ihr sehe es auch so aus. Ich bitte sie ein paar Mal, einfach ruhig zu sein, aber sie hört nicht auf. Immer wieder gibt sie „Iiiiiih“ von sich oder sonstige Kommentare, fasst die Sachen mit Daumen und Zeigefinger und rümpft die Nase. Ich werde immer angepisster.
Wir verabschieden uns von dem Typ, gehen noch in den Blumenladen, bestellen Bestecke und gehen zum Bahnhof. Lasse, der Mann meiner Tante, ruft mich an, ein paar unserer Landsleute haben sich gemeldet und bieten ihre Hilfe an. Sie wollen sich um den Leichenschmaus kümmern, der Balkanladen-Inhaber würde die Fleischplatten günstig verkaufen, sie werden sie holen und alles bereit machen. Eigentlich will ich am Nachmittag die Fleischplatten beim Metzger bestellen und mich um alles für den Leichenschmaus kümmern, aber ich freue mich sehr, dass die Leute ihre Hilfe anbieten und nehme sie dankbar an. Livia redet dazwischen „Nein, was mischen die sich ein! Wir werden das alles erledigen. Wir brauchen deren Hilfe nicht.“ Ich bin schockiert. Lasse hört sie, meint, ich soll das mit ihr klären, ich sage „Nein, ich nehme die Hilfe sehr gerne an.“ Während ich mit ihm noch alle Details, was wir brauchen, bespreche, redet sie dazwischen, benimmt sich wie ein verzogenes Gör, singt sogar. Lasse ist es unangenehm und ich kann es kaum erwarten, aufzulegen. Ich wimmle ihn ab, leg auf, steh von der Wartebank auf und dann schreie ich sie an.
Ich schreie, wie ich sie noch nie in meinem Leben angeschrien habe, mitten am Bahnhof „ Was soll der Scheiss? Seit zwei Tagen läufst du mir wie ein Dackel hinterher und es heisst die ganze Zeit, mach du, entscheide du, sag du. Jetzt kommst du plötzlich, WIR machen das. Welches WIR? Von welchem verdammten WIR redest du? Du verschwindest gleich nach Hause zurück und kommst erst wieder zur Beerdigung. Welches WIR soll denn das sein? Es sind nur ich! Ich darf herumrennen, ich darf alles entscheiden, ich muss alles organisieren, ich soll schleppen. Welches verdammte WIR? Da bieten Leute, die ich gar nicht kenne, ihre Hilfe an und statt dass du dich freust, weil ich nicht alles allein machen muss, willst du, dass ich wie ein Packesel alles auf meinen Schultern schleppe. Ich hab so die Schnauze voll von deinem Egoismus, deiner Faulheit, du bist unbrauchbar und wenn du eh nichts machen willst, halt einfach die Klappe! Halt verdammt noch mal dein Maul. In der Wohnung hast du dich wie der grösste Vollidiot verhalten. Halt doch einfach mal die Klappe und benimm dich wie eine Erwachsene statt wie ein verzogenes Gör !“ Ich schreie sie auch weiterhin an, ich bin ausser Kontrolle, sie gibt keinen Ton von sich.
Bei mir ist die Luft raus, ich laufe in einer Linie hin und zurück, rauche, inhaliere tief. Der Bus kommt. Auf dem Weg nach Hause reden wir kein Wort miteinander. Ich bin ausgelaugt, leer, müde. Zu Hause fragt sie, was sie übernehmen soll, ich geb ihr die Botschaft. Blödsinn, die Botschaft ist in der Stadt am Fluss, für mich wäre es einfacher, mich darum zu kümmern, aber ich geb ihr die Aufgabe trotzdem ab. Sie wird dann vom Schwager abgeholt.
Komischerweise geht es mir seelisch die ganze Zeit gut. Ich hab keinen Druck mehr in der Brust und meinen ersten Termin mit Frau M. hab ich von Freitag auf Donnerstag vorverschoben, überlege aber, ob ich überhaupt hingehen soll, da es mir ja wieder gut geht. Ich bin schon geheilt. Ich entscheide mich dann, doch einmal vorbeizuschauen.
Читать дальше