Diese Sprachlosigkeit ist eine Folge der organisatorischen Richtungslosigkeit, da die Parteitage allein routinierte Antragsberatungen kennen, aber keinen Programmaufbruch mehr zulassen. Dabei haben Formelkompromisse noch nie einen besonderen Sexappeal auf die Wählerschaft ausgelöst. Innovationen wurden in den Parteien aber immer durch neue Anhänger ausgelöst. Diese neuen Ideenlieferanten fehlen den heutigen Volksparteien. Die Volksparteien sind organisatorisch in die Jahre gekommen. Gerade wenn der Volksparteiidee erhalten werden soll, müssen sich die Volksparteien organisatorisch erneuern. Die wirklich erfolgreichen Wahlkämpfe wurden in den vergangenen Jahren, bspw. in Frankreich, aber auch in den USA, mehr durch Wählerallianzen, denn durch etablierte Parteistrukturen erzielt. Die lange verkannte Frage in deutschen Volksparteien lauten nicht, wie bekomme ich in meinen Ortsverband mehr Mitglieder, sondern wie binde ich neue oder bereits verlorene Wählerklientele ein. Volksparteien müssen sich daher von Mitgliederparteien hin zu Wählerallianzen öffnen. Dafür gibt es nicht den einen Weg: Am radikalsten ist sicherlich Macron vorgegangen, der sich schlicht seinen eigenen Apparat schuf. Aber auch Tony Blair in den 1990er Jahren oder heute Sebastian Kurz haben mit Wählerallianzen, die eine Volkspartei jeweils als zentralen Kern beinhalte, ihre Wählerschaft verbreitert. Bestimmend dabei war, Neugierde für programmatische Innovationen zu wecken. Deutschland braucht keinen weiteren Mehltau. Deutschland braucht Neugierde statt Stabilität. Das ist die Lehre aus 2017.
57% – Wie Deutschland nach rechts rückte, seine Bürger aber nicht. Ein kritischer Rückblick. Und fantastischer Ausblick.
Jana Faus / Rainer Faus
57% der Deutschen sehen sich laut der Bertelsmann-Studie ‚A Source of Stability‘ vom Juli 2017 politisch als Teil des Mitte-links Spektrums, lediglich 43% als Teil des Mitte-rechts Spektrums. Vor die Wahl gestellt, stimmen ebenfalls 57% nach einer unveröffentlichten pollytix-Studie vom September 2017 zu: „Deutschland sollte ein tolerantes und weltoffenes Land sein, in dem sich jeder frei entfalten kann, egal wo er herkommt, an was er glaubt oder wie er lebt.“ Nur 39% stimmen eher zu: „Deutschland sollte sich wieder auf seine traditionellen Werte zurückbesinnen und aufpassen, dass unsere christlich-abendländische Kultur nicht verloren geht.“ 1
Gibt es etwa in der Bevölkerung gar keinen Rechtsruck?
Letztere Werte sind im Übrigen erstaunlich stabil: Schon im Oktober 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, stimmten 56% für Weltoffenheit, 37% für Tradition. Auf dieser Dimension hat sich also nichts bewegt. Und diese Dimension ist für die Wähler eine ganz entscheidende Dimension. Sie bestimmt, in welchem Land wir leben wollen. Sie wirft die große Frage, wie wir unsere Gesellschaft in Zukunft wünschen. Aber dazu später mehr.
Interessant ist dabei aber vor allem, dass sich Wähler der SPD, Linken (je 73%) und Grünen (90%) mit deutlicher Mehrheit zu Weltoffenheit und Toleranz bekennen und Wähler der AfD als Gegenpol fast uniform zu Tradition und abendländischer Kultur (88%). Spannend sind die Wähler der CDU/CSU sowie der FDP: Wähler dieser Parteien sind ungefähr mittig zwischen Weltoffenheit und Tradition gespalten. Es sind also nicht nur die politischen Lager gespalten, sondern die Spaltung geht mitten durch die bürgerlichen Parteien.
Wir haben in Deutschland also eine Bevölkerung, die sich mehrheitlich als mitte-links oder links davon bezeichnet und die mehrheitlich für Toleranz und Weltoffenheit plädiert. Gleichzeitig haben wir ein Wahlergebnis, bei dem gut 56% auf mitte-rechts oder rechts entfallen (so man dazu CDU/CSU, FDP und AfD zählt, was wir für den Zweck dieser Übung einfach mal tun) und nur knapp 39% auf mitte-links oder links (so man dazu SPD, Grüne und Linke zählt, was wir für den Zweck dieser Übung wiederum einfach mal tun).
Außerdem müssen wir beobachten, dass sich der politische Diskurs nach rechts verschiebt und Dinge sagbar werden, die vor einiger Zeit noch undenkbar waren. Wie passt das zusammen?
Die Kanzlerin hat sich für einen Mitte-Kurs entschieden, der ihr bald den Job kosten wird.
Die Strategie der Kanzlerin ist seit langem klar: Gestützt vom CDU-Strategen und ZDF-Demoskopen Matthias Jung fährt Angela Merkel einen dezidierten Mitte-Kurs und befriedet dabei Themen, die potentiell ‚heiß‘ werden könnten. Solche Themen könnten der Kanzlerin gefährlich werden und das weiß sie. Seit Beginn ihrer Amtszeit ist sie gut damit gefahren, den politischen Diskurs, den offenen Streit zu unterbinden und Deutschland in einen politischen Dämmerschlaf zu legen. Das ist sie, die oft zitierte asymmetrische Demobilisierung. Asymmetrisch demobilisiert werden durch diese Strategie vor allem Wähler der SPD, da der Partei Mobilisierungsthemen fehlen.
Manches SPD-Herzensthema wird in der öffentlichen Wahrnehmung gar als Erfolg der Kanzlerin zugeschrieben. Selbst der Mindestlohn wird von bestimmten Wählersegmenten fälschlicherweise der Kanzlerin zugeschrieben. Damit, aber auch dank ihrer wahrgenommenen starken Haltung in der Flüchtlingspolitik, genießt die Kanzlerin hohes Ansehen bis weit ins linke Spektrum rein und bindet hier Wähler, die zwar Merkel gut finden, unter ‚normalen‘ Umständen aber nicht unbedingt CDU wählen würden. Eine Wählerin sagte uns im Tiefeninterview: „Ich mache beinahe unter körperlichen Schmerzen mein Kreuz bei der CDU. Dabei wähle ich eigentlich nur Frau Merkel.“
So wie diese Wählerin innerlich gespalten ist, ist es auch die CDU. Nur wird diese interne Spaltung oftmals übersehen. Einerseits weil sie von der noch viel größeren Differenz mit der bayrischen Schwester CSU überschattet ist, andererseits, weil Merkel eben auch diese interne Spaltung geschickt wegschweigt. Und die CDU professionell genug ist, interne Differenzen in Wahlkampfzeiten nicht öffentlich auszutragen.
Aber ab und an wird er aber eben doch sichtbar, dieser tiefe Riss, der sowohl durch die Partei als auch ihre Wählerschaft geht: Grundsätzlich ist die CDU natürlich – entgegen ihrer momentanen Selbstdarstellung – keine moderne Partei der Mitte, sondern eine konservative Partei: Eine Partei der Beibehaltung des Status Quo und der konservativen Werte. Und die braucht es in einem Land, in dem sich 43% dem mitte-rechts-Spektrum zuordnen. Merkel hat mit ihrem Mittekurs den konservativen Teil der Partei aber schon lange nicht mehr hinter sich. Dies zeigte sich z.B. beim Beschluss des Parteitags im Dezember 2016, den Kompromiss mit der SPD zur doppelten Staatsbürgerschaft aufzukündigen. Einen Tag nach Merkels Wiederwahl zur Parteivorsitzenden war das eine schallende Ohrfeige für die Kanzlerin.
Die konservative Wertehaltung der CDU lässt sich besonders schön bei gesellschaftspolitischen Themen besichtigen, zuletzt bei der von der CDU/CSU mit deutlicher Mehrheit abgelehnten Ehe für alle. Hier ist die Bevölkerung aber deutlich progressiver als die CDU: In der Bevölkerung traf die Ehe für alle auf breite Zustimmung, je nach Umfrage wird sie von zwei Drittel bis drei Viertel der Deutschen befürwortet.
Diese Widersprüche der CDU für Wähler salient zu machen ist dem mitte-links-Lager nicht geglückt. Und die eher kanzlerinnenverliebten Medien haben dabei auch nicht unbedingt geholfen.
Für den Wahlsieg war man in der CDU (und zum Teil auch in der CSU) bereit, Merkels Mittekurs zu unterstützen. Die massiven Verluste der CDU/CSU und das starke Abschneiden der AfD sorgen aber nach der Wahl erwartungsgemäß für Unmut und laute Forderungen, die „rechte Flanke“ zu schließen. Anders als manchmal behauptet, speist sich die AfD eben nicht hauptsächlich aus apolitischen abgehängten Protestwählern (die es fraglos auch gibt), sondern aus wirtschaftlich eher abgesicherten Konservativen, die ihre politische Heimat in der CDU verloren haben. Diese ist ihnen schlicht zu mittig geworden. Das ahnen Merkels konservative Kontrahenten in der Partei, zahlreiche Studien sowie anekdotisches Wissen von CDU-Haustürwahlkämpfern bestätigen den Eindruck.
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