Sanft sieht er tatsächlich nicht aus, dachte Svenja, als sie an den Journalisten vorbeibrausten. Im Rückspiegel erkannte sie den Kanzleramtsminister, der ihnen atemlos hinterherschaute. Sollte sie ihn fragen, was passiert war? Besser nicht. Nicht in seiner jetzigen Gemütsverfassung. Schließlich war sie auch deshalb eine so gute Fahrerin geworden, weil sie wusste, was wann zu tun war, und Konversation war jetzt sicher nicht angesagt. Ihr letzter Chef, immerhin ein Landesminister, war auch schon mal wütend aus politischen Veranstaltungen gekommen, aber Wulvsen war geradezu außer sich gewesen, als er auf den Parkplatz gerannt gekommen war, und immerhin war er bei der Kanzlerin gewesen. Sie versuchte aushilfsweise sich zusammenzureimen, was wohl geschehen war. Er war schon nicht mit Begeisterung nach Berlin gefahren, das hatte er deutlich gemacht. Solche Besprechungen mit der Kanzlerin seien Zeitverschwendung, hatte er gegrummelt, um dann wüst auf die Regierungschefin zu schimpfen. Svenja konnte ihn bis zu einem gewissen Grade verstehen, aber sie hatte gedacht, dass eine solche Einladung doch auch eine Ehre sei und er sich zusammenreißen würde, und die Veranstaltung zumindest über sich ergehen lassen würde. Ihr Chef hatte eine Veranstaltung der ersten Frau im Staate vorzeitig und wutschnaubend verlassen. Ihr Chef hatte den Minister einfach stehenlassen. Sie konnte sich aber nicht vorstellen, dass dieses Verhalten negative Konsequenzen für den Alten oder den Konzern haben würde, dafür war der Alte viel zu rational. Sie musste unbedingt Jürgen fragen, wieviel Macht dieser Mann besaß.
Svenja war froh, endlich sein Haus erreicht zu haben, denn seine schlechte Laune hatte sich auch während der Heimfahrt nicht gelegt. Umso überraschter war sie, als sie ihn plötzlich von hinten sanft reden hörte, nachdem sie angehalten hatte.
„Wenn Sie die kleine Straße hier weiter fahren und dann links abbiegen, kommen Sie nach einer Weile zu einem Kindergarten. Davor ist ein Kinderspielplatz. Dort hält sich jeden Tag ein kleines Mädchen auf, das den Kindergarten besucht; der schließt aber um sechzehn Uhr und die Kleine wird erst um viertel nach vier von ihrer Tante abgeholt. Wenn ich früh zu Hause bin, oder zwischendurch, und laufe, setze ich mich manchmal zu dem Kind, bis seine Tante kommt. Morgen wird das nicht der Fall sein können. Ich möchte, dass Sie um vier bei diesem Kindergarten sind und mit Martha auf die Tante warten. Reden sie mit ihr und schlagen ihr vor, die Kleine jeden Tag abzuholen und nach Hause zu bringen, zumindest aber bei dem Mädchen zu bleiben, wenn ich das nicht kann und Sie frei sind.“ Svenja drehte sich nach hinten und sah ihren Chef an, doch der scherzte offenbar nicht. Sie zog die Augenbrauen zusammen und wollte etwas erwidern, doch er sagte nur: „Machen Sie das.“, und stieg aus.
Dieser Mann hatte heute einen Auslandsleiter entlassen, seine Abteilungsleiter zur Schnecke gemacht und den finnischen Ministerpräsidenten angeschrieen. Er hatte gestern eine offizielle Konferenz der Kanzlerin vorzeitig verlassen und sich auch vom Kanzleramtsminister nicht zur Rückkehr überreden lassen, war mit der ausgespuckten Bemerkung „Ignoranten!“ in den Wagen gestiegen. Sie musste mit Vollgas an den Journalisten vorbeifahren und die Zeitungen verlautbarten am nächsten Tag ‚Industrieller düpiert Regierungschefin‘, und jetzt verlangte er von ihr, dass sie sich um ein Kindergartenkind kümmerte. Dieser Mann hatte zwei Seiten. Mindestens.
Ein Mann in einem Anzug und mit einer Aktenmappe unter dem Arm rannte auf einige geparkte Autos zu. Die Aufnahme war aus großer Entfernung gemacht worden und der Mann hatte das Gesicht abgewandt.
„Der läuft wie Roger.“, rief Martha und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Bildschirm. Tanja schaute interessiert um die Ecke, in der Hand ein Trockentuch.
„Wer läuft wie wer?“
„Der Mann da im Fernsehen, der läuft wie Roger.“ Tanja sah auf den Bildschirm, konnte aber nur einen Nachrichtensprecher ausmachen, der nicht lief, sondern saß und in die Kamera schaute.
„Die Kanzlerin hat sich bisher nicht zu seinem vorzeitigen Aufbruch geäußert.“, hörte sie nur noch.
„Wer ist denn nun gelaufen wie dein Roger?“
„Ein Mann in einem Anzug. Der war ganz weit weg. Der ist auf Autos zugelaufen.“
„Aha.“, meinte Tanja und wandte sich wieder dem Abwasch zu. Sie hatte den Fernseher für Martha angeschafft und hörte eigentlich die Nachrichten nur. Gut, manchmal schaute sie sich Liebesfilme an. Sie kuschelte dann am Wochenende mit Martha auf der Couch. Martha schlief meist bald ein, aber sie schaute immer bis zum Schluss. Zeitungen hatte sie keine, wozu auch? Nachrichten im Fernsehen anzusehen fand sie anstrengend, denn dort wurden manchmal erläuternde Zeilen eingeblendet, die sie nicht lesen konnte. Tanja Kiel beschränkte sich daher meist aufs Radiohören, was die Informationsbeschaffung anlangte, so dass ihr nicht nur Geschriebenes, sei es auf Papier oder auf Monitoren, entging, sondern auch Bilder, die auf Papier oder Monitoren manchmal mit Geschriebenem einhergehen, es ausschmücken oder erläutern. Wäre dies anders gewesen, hätte sie über all die Jahre den Werdegang eines alten Schulfreundes verfolgen können, denn so ganz konnte sich Roger Wulvsen nicht aus den Medien heraushalten. Aber das war nicht geschehen, und so konnte in der Folgezeit passieren, was passierte.
Martha hielt es durchaus für möglich, dass der Mann im Fernsehen ihr Roger gewesen war. Eigentlich war sie sogar ziemlich sicher. Was sich in der Hauptstadt genau abgespielt hatte, erschloss sich ihr noch nicht ganz, was mit ihrem jungen Alter zusammenhing, aber es musste wichtig gewesen sein, denn sonst wäre es ja nicht im Fernsehen gewesen.
Eine große, blonde Frau mit freundlichen Gesicht und dunklem Hosenanzug kam auf Martha zu. Direkt. Etwas trotzig und gespannt sah Martha ihr entgegen.
„Bist du Martha?“, fragte die Frau mit tiefer Stimme. Martha nickte vorsichtig. Der erste Schritt ist gemacht, dachte Svenja und wusste dann nicht weiter, denn sie wusste nicht, in welcher Form sie von dem Alten sprechen sollte. Es lag nahe, dass er sich von Martha nicht mit ‚Herr Dr. Wulvsen‘ anreden ließ, und so wurde Ariel wagemutig.
„Roger schickt mich, ich heiße Svenja.“, behauptete die Frau und Martha legte den Kopf schräg. „Ich soll bei dir bleiben, bis deine Tante da ist, und euch, wenn ihr wollt, nach Hause bringen.“ Svenja deutete auf das große, schwarze Auto, mit dem sie gekommen war.
„Ist das dein Auto?“, fragte Martha. Svenja lächelte, denn mit dem Vornamen des Alten schien sie es ja genau richtig getroffen zu haben; wohl war ihr dabei aber nicht.
„Nein, das Auto gehört der Firma, in der … Roger und ich arbeiten.“ Sie ertappte sich dabei, rot geworden zu sein, weil sie so tat, als duzte sie den Alten.
„Du darfst mit dem Auto fahren?“ Svenja lächelte noch immer, überlegte aber dabei angestrengt, was sie sagen sollte. Sie entschied sich für die Wahrheit.
„Ja, ich bin Fahrerin.“
„Aha, und wen fährst du?“
„Ich fahre den Chef.“, erklärte Svenja nicht ohne Stolz, wusste aber nicht, ob das die richtige Antwort gewesen war. Martha sah sie seltsam an.
„Jetzt aber nicht?“
„Nein, jetzt nicht, jetzt bin ich hier. Ich habe ein wenig Zeit und komme einer Bitte eines Kollegen nach.“
„Der Kollege ist Roger?“
„Genau.“ Svenja hatte mittlerweile Mühe, Selbstsicherheit vorzutäuschen, denn sie sprach von Wulvsen wie von einem alten Bekannten.
„Woher soll ich wissen, dass das stimmt?“
„Dass was stimmt?“, fragte Svenja irritiert.
„Dass du Roger kennst.“
„Wir könnten ihn anrufen.“, schlug Svenja spontan vor. Martha überlegte kurz und nickte dann. Svenja wusste plötzlich nicht mehr, ob das eine gute Idee wäre, schließlich saß der Alte in einer wichtigen Besprechung. Aber sie hatte nun mal diesen Weg eingeschlagen und wollte ihn weitergehen, schließlich handelte sie im Auftrag des Alten, und genauere Instruktionen hatte sie nicht erhalten, also konnte sie guter Hoffnung sein, dass sie das nicht den Job kosten würde. Sie entschied sich für eine SMS.
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