Sie fuhren in den fünfzehnten Stock und traten auf einen mit Teppichboden ausgelegten, fensterlosen Flur, in dem absolute Stille herrschte. Eine hagere Dame in grauem Kostüm kam ihnen entgegengetrippelt, doch ihre Schritte hörte man nicht.
„Sie müssen die Kandidaten sein.“, rief sie grußlos, „Folgen Sie mir bitte.“ Sie gingen um eine Ecke. Dieser Teil des Flurs sah genauso aus, wie der, von dem sie gekommen waren, mit dem Unterschied, dass hier, gegenüber einer Flügeltür, drei Stühle an der Wand standen.
„Bitte setzen Sie sich.“, sprach die Dame und trippelte davon.
Die Hagere klopfte an eine schwere Tür und trat nach ein paar Sekunden ein.
„Die Kandidaten sind jetzt da.“, informierte sie Elke Rehbein, die gerade dabei war, eine Mappe zusammenzuraffen.
„So früh schon? Das wird ihm nicht gefallen; es ist noch nicht seine Zeit.“
Die Hagere zuckte die Schultern, was alles heißen konnte, ging wieder hinaus und Rehbein betrat mit einem gewissen Unbehagen, das sie auch nach den vielen Jahren nicht ganz hatte abschütteln können, das Allerheiligste. Die linke Wand des Raumes bestand aus einer Fensterfront, die vom Boden bis zur Decke reichte und aus verspiegeltem Glas bestand; man konnte zwar hinaus- , aber nicht hereinsehen, was allerdings auch sonst nicht ganz so einfach gewesen wäre, denn das Gebäude war das höchste in der Gegend und das Chefzimmer befand sich im obersten Stockwerk. Vor dieser Glasfront stand ein langer Besprechungstisch. Die rechte Wand war eine einzige Schrankwand, doch niemand außer dem Alten wusste genau, was sich hinter den einzelnen Türen und Klappen verbarg. Wulvsens Riesenschreibtisch stand an der der Tür gegenüberliegenden Stirnseite des Raumes, dahinter befand sich wiederum eine Schrankwand und rechts eine Tür, die zu einem kleinen Bad führte und die Tür des exklusiven Lifts. Wulvsens graumelierter Schädel blickte von seinem Monitor, an dem er sich über das aktuelle Geschehen in seinem Imperium auf dem Laufenden gehalten hatte, auf, als Rehbein hereintrat und wies mit dem Kinn auf einen der beiden Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen.
Er hatte sich seines Jacketts entledigt und trug nur die aufgeknöpfte Weste über dem weißen Hemd, um seinen Hals baumelte eine locker sitzende Krawatte. Rehbein wusste, dass er diese Bekleidungskonventionen der Geschäftswelt nicht unbedingt mochte, was noch sehr zurückhaltend ausgedrückt ist. An terminfreien Tagen, die es hin und wieder, aber sehr selten gab, erschien er auch schon einmal in Jeans und Poloshirt im Büro, aber das wussten fast nur seine Sekretärin und sein Fahrer.
Rehbein stellte sich, wie immer am frühen Morgen, auf eine eher einsilbige Konversation ein, denn seine Betriebstemperatur würde er erst am Mittag erreichen; allerdings war ihr auch bekannt, dass er in der Frühe reizbar und sensibel sein konnte. Manche nannten dies auch unberechenbar und cholerisch.
„Die Neuen sind schon da.“, eröffnete die Sekretärin. Wulvsen sah sie verständnislos an.
„Welche Neuen?“
„Meine Nachfolgekandidaten.“ Wulvsens Miene verdüsterte sich.
„Wer hat das terminiert?“, fragte er unheilschwanger und ballte seine rechte Faust.
„Dornhege.“, antwortete sie knapp und kniff die Lippen zusammen.
Schon wieder dieser Dornhege. Für Wulvsen war das Maß jetzt voll. Immer wieder hatte sein Personalchef in der Vergangenheit die Entscheidungen des Alten kritisiert, hatte sogar versucht, sie zu hintertreiben. Fachliche Qualifikation hin oder her, Dornhege musste weg.
„Machen Sie seine Papiere fertig, nach dem Termin räumt er seinen Schreibtisch. Schreiben Sie sofort neu aus, aber nur intern.“ Er flüsterte fast. Rehbein hatte sich schon so etwas gedacht, schließlich kannte sie den Alten lange genug. Er hasste Termine vor zehn Uhr und eigentlich müsste auch Dornhege das wissen, schließlich war der nicht erst seit gestern Personalchef. Sie räusperte sich.
„Um zwölf kommt OB Wohllebe.“ Wulvsen sah sie ärgerlich an.
„Was will der denn?“, spie er abschätzig.
„Es geht um das neue Logistikzentrum in diesem Gewerbegebiet.“ Normalerweise würde er sich nicht persönlich um solche Sachen kümmern, aber hier lag eine Besonderheit vor, und so würde er den Oberbürgermeister persönlich treffen. Irgendwie würde sich sein Entgegenkommen schon auszahlen, hatte der Alte gedacht.
„Gut. Um elf will ich die entsprechenden Fachleute zum Briefing hier haben.“ Rehbein nickte. „Danach Videokonferenz mit allen Leitern.“
Er hatte sich ziemlich schnell an diese Videokonferenzen gewöhnt, er fand sie praktisch; so konnte er beinahe reibungslos mit den Auslandsleitungen konferieren. Die fanden das auch gut. Jedenfalls besser, als wenn er persönlich anreiste, was allerdings immer noch vorkam. Über den Monitor war seine Brüllerei wohl erträglicher. Zumindest brauchten sie keine Angst vor tätlichen Übergriffen zu haben. Anfangs hatte er die Konferenzen abgehalten, wann es ihm in den Sinn kam, auch morgens oder abends, bis Rehbein ihm erklärt hatte, dass die Erde aufgrund bestimmter Gegebenheiten in verschiedene Zeitzonen aufgeteilt ist, und es morgens um neun in New York zum Beispiel erst drei Uhr in der Nacht ist. Er hatte eine Augenbraue hochgezogen und hielt von da an die Videokonferenzen um die Mittagszeit ab. Die asiatischen und amerikanischen Leitungen mussten sich dann eben anpassen.
Sie gingen die Nachmittagstermine durch.
„Was soll ich Frau Hönnes denn genau sagen?“, wollte sie abschließend wissen.
„Bestellen Sie einen Tisch bei ‚Hilde‘, morgen um sieben; Hönnes soll morgen um sechs hier sein.“ Der Alte wendete sich wieder seinem Bildschirm zu, aber Rehbein blieb sitzen. „Ist noch was?“, fragte Wulvsen ungehalten. Rehbein räusperte sich.
„Was meinen Sie damit?“ Wulvsen sah sie mit zusammengezogenen Brauen an.
„Womit?“
„Dass Hönnes morgen um sechs hier sein soll.“ Wulvsens Miene verfinsterte sich.
„Das meine ich genauso, wie ich es gesagt habe.“, raunte er kompromisslos. Verstört stand Rehbein auf und ging hinaus. Das war das erste Mal in den zwölf Jahren, dass er den Fahrer zu sich bestellte. Ob das mit Hönnes‘ letztem Tag zusammenhing?
Wulvsen schloss die Datei und stand auf. Er griff kurz zu seinem Jackett, das über seinem Bürosessel hing, zog seine Hand dann aber wieder zurück. Stattdessen öffnete er ein Fach der Schrankwand und zog erst einen Pullover heraus und dann über, nachdem er sich seiner Weste entledigt hatte. Er atmete einmal tief durch und sah über die Stadt. Seine Gedanken wanderten kurz zu einem kleinen Mädchen, das er vor kurzem kennengelernt hatte. Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden und sich auf das vor ihm Liegende zu konzentrieren. Das mit dem Loswerden klappte auch, aber nur unvollkommen.
Das Mädchen ging zielstrebig auf eine der Schaukeln des Spielplatzes vor dem Kindergarten zu und setzte sich darauf. Dann wartete es ohne zu schaukeln. Einerseits wartete es auf seine Tante, die es gleich abholen würde, aber sein Blick war nicht in die Richtung gerichtet, aus der die Tante zu erwarten gewesen wäre, sondern der ging zum Wald hinüber. Aus dem führte nämlich ein Weg heraus und zugleich hinein. Das Mädchen lächelte, als es den Läufer erblickte. Der lächelte zurück und winkte kurz, kam zu dem Mädchen gelaufen und setzte sich auf die andere Schaukel.
Die Freude war beiderseitig. Das Mädchen war einfach froh, die Zeit bis zur Ankunft seiner Tante nicht alleine überbrücken zu müssen, und in dem Läufer einen interessanten Gesprächspartner gefunden zu haben, und der empfand die paar Minuten Unterhaltung mit dem Kind als äußerst erholsam. Nach ein paar Tagen gab er sich selbst gegenüber sogar zu, sozusagen gestärkt aus diesen Gesprächen hervorzugehen, obwohl die Gegenstände ihrer Unterhaltungen eher profan waren. Oder vielleicht gerade deshalb. Außerdem war da noch etwas … Der Läufer war viel zu sehr Realist, um auch nur im Entferntesten daran denken zu können, dass diesen Momenten eine Art Magie innewohnte. Das sollte dann später kommen.
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