»Ich bitte um eine schriftliche Bestätigung dieser Anordnungen!« rief der Offizier. »Und das heute noch!«
»Heute noch? Das wird ein bißchen spät. Aber vielleicht morgen. Vor morgen kommt der Kluge bestimmt nicht. Wenn er überhaupt wieder hierherkommt! Also dann, Heil Hitler, meine Herren!«
»Gottverdammich!« knirschte der Offizier. »Diese Kerle werden immer anmaßender! Die ganze Gestapo soll der Henker holen! Die denken, weil sie jeden Deutschen einstecken können, dürfen sie sich alles erlauben. Aber ich bin Offizier, ich bin sogar Berufsoffizier …«
»Was ich noch sagen wollte …« der Kopf Escherichs erschien wieder im Türspalt, »hat der Mann vielleicht hier noch Papiere, Briefe, persönliches Eigentum?«
»Da müssen Sie seinen Meister nach fragen! Der hat einen Schlüssel zu seinem Schrank …«
»Also schön«, sagte Escherich und sank auf einen Stuhl. »Da fragen Sie denn also den Meister danach, Herr Oberleutnant! Aber wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht, ein bißchen schnell, ja?«
Einen Augenblick tauschten die beiden Blicke. Die Augen des spöttischen, farblosen Escherich und die vor Zorn dunklen des Oberleutnants führten einen Kampf miteinander. Dann schlug der Offizier die Hacken zusammen und verließ eilig den Raum, die gewünschte Auskunft zu besorgen.
»Ulkige Kruke das!« sagte Escherich zu dem plötzlich eifrig an seinem Schreibtisch beschäftigten Parteibonzen. »Wünscht die Gestapo zum Henker. Möchte gerne wissen, wie lange ihr hier noch sicher sitzen würdet, wenn wir nicht wären. Letzten Endes: der ganze Staat, das ist die Gestapo. Ohne uns bräche alles zusammen – und ihr ginget alle zum Henker!«
Dem Kommissar Escherich wie seinen beiden Spionen vom Alex wäre es wohl recht seltsam zu vernehmen gewesen, daß der kleine Enno Kluge gar nichts davon geahnt hatte, daß er beschattet wurde. Sondern von dem Augenblick an, als ihn Assistent Schröder endgültig in die Freiheit entließ, hatte er nur den einen Gedanken: Bloß fort von hier und zur Hete!
Er lief durch die Straßen und sah keine Menschen, er ahnte nicht, wer hinter und wer neben ihm war. Er sah nicht hoch, er dachte bloß: Hin zu Hete!
Der Schacht der U-Bahn verschluckte ihn. Er stieg in einen Zug und entrann so für dieses Mal dem Kommissar Escherich, den Herren vom Alex und der ganzen Gestapo.
Enno Kluge hatte sich entschlossen: Er fuhr erst noch einmal zur Lotte und holte seine Sachen. Er wollte gleich mit seinem Koffer bei der Hete anrücken, da sah er denn, ob sie ihn wirklich liebte, und er bewies ihr, daß er mit seinem alten Leben Schluß machen wollte.
So kam es, daß ihn seine Beschatter im Gedränge und schlechten Licht der U-Bahn aus dem Auge verloren. Er war ja wirklich nur ein Schatten, dieser schmächtige Enno! Wäre er aber gleich zu der Hete gegangen – und zum Königstor konnte er ja vom Alex aus gut zu Fuß gehen, da brauchte er keine U-Bahn –, so hätten sie ihn nicht verloren und hätten in der kleinen Tierhandlung immer wieder einen Ausgangspunkt für ihre Beobachtungen gehabt.
Mit der Lotte hatte er Glück. Sie war nicht zu Hause, und eilig packte er seine paar Sachen in den Handkoffer. Er widerstand sogar der Versuchung, ihre Sachen zu durchstöbern, ob er etwa einiges zum Mitnehmen Brauchbares fände – nein, diesmal sollte es anders werden. Nicht wieder wie damals sollte es kommen, als er in das enge Zimmer des kleinen Hotels einzog, nein, diesmal wollte er wirklich ein anderes Leben führen – wenn die Hete ihn aufnahm.
Immer langsamer ging er, je näher er dem Laden kam. Immer häufiger setzte er den Koffer ab, und so schwer war der gar nicht. Immer öfter wischte er den Schweiß von der Stirn, und so heiß war es auch nicht.
Dann stand er schließlich vor dem Laden und spähte durch die blanken Gitterstäbe der Vogelkäfige hinein: ja, Hete war an der Arbeit. Sie bediente gerade; vier, fünf Kunden standen im Laden. Er stellte sich zu ihnen und sah stolz und doch zitternden Herzens zu, wie geschickt sie die Kunden abfertigte, wie höflich sie mit ihnen sprach.
»Indische Hirse gibt es nicht mehr, meine Dame. Das müßten Sie doch wissen, wo Indien zum Empire gehört. Aber bulgarische Hirse habe ich noch, die ist viel besser.«
Und sagte mitten aus der Bedienung heraus: »Ach, Herr Enno, das ist nett, daß Sie mir ein bißchen helfen wollen. Den Koffer setzen Sie am besten in die Stube. Und dann holen Sie mir bitte gleich Vogelsand aus dem Keller. Katzensand brauche ich auch. Und dann Ameiseneier …«
Und während er mit diesen und anderen Aufträgen vollauf beschäftigt war, dachte er: Sie hat mich gleich gesehen, und sie hat auch sofort gesehen, daß ich einen Koffer mit habe. Daß ich ihn in die Stube setzen durfte, ist ein gutes Zeichen. Aber sicher wird sie mich erst ausfragen, sie nimmt alles so schrecklich genau. Aber ich werde ihr schon irgendeine Geschichte erzählen.
Und dieser Mann um die Fünfzig, dieser alt gewordene Herumtreiber, Nichtstuer und Weiberheld betete wie ein Schulkind: Ach, lieber Gott, laß mich doch noch einmal Glück haben, nur dieses einzige Mal noch! Ich will auch ganz bestimmt ein anderes Leben anfangen, nur mach, daß mich die Hete aufnimmt!
So betete, bettelte er. Und dabei wünschte er doch, daß es noch recht lange hin bis zum Ladenschluß sein möchte, bis zu dieser ausführlichen Aussprache und seinem Geständnis, denn irgendetwas gestehen mußte er der Hete, das war klar. Wie sollte er ihr sonst begreiflich machen, warum er hier mit Sack und Pack angerückt kam, und mit einem so dürftigen Sack und Pack dazu! Er hatte doch vor ihr immer den großen Mann gespielt.
Und dann war es plötzlich soweit. Schon längst war die Ladentür geschlossen, anderthalb Stunden hatte es dann noch gekostet, all seine Bewohner mit frischem Wasser und Futter zu versehen und den Laden aufzuräumen. Nun saßen die beiden einander gegenüber an dem runden Sofatisch, hatten gegessen, ein wenig geplaudert, immer ängstlich das Hauptthema vermeidend, und plötzlich hatte diese zerfließende, verblühte Frau den Kopf erhoben und gefragt: »Nun, Hänschen? Was ist es? Was ist dir geschehen?«
Kaum hatte sie diese Worte in einem ganz mütterlich besorgten Ton gesprochen, da fingen bei Enno die Tränen an zu fließen; erst langsam, dann immer reichlicher strömten sie über sein mageres, farbloses Gesicht, dessen Nase dabei stets spitzer zu werden schien.
Er stöhnte: »Ach, Hete, ich kann nicht mehr! Es ist zu schlimm! Die Gestapo hat mich vorgehabt …«
Und er verbarg, laut aufschluchzend, den Kopf an ihrem großen, mütterlichen Busen.
Bei diesen Worten richtete Frau Hete Häberle den Kopf auf, in ihre Augen kam ein harter Glanz, ihr Nacken steifte sich, und sie fragte fast hastig: »Was haben sie denn von dir gewollt?«
Der kleine Enno Kluge hatte es – in nachtwandlerischer Sicherheit – mit seinen Worten so gut, wie es nur möglich war, getroffen. Mit all seinen andern Geschichten, mit denen er sich an ihr Mitleid oder an ihre Liebe hätte wenden können, wäre es ihm nicht so gut ergangen wie mit diesem Wort Gestapo. Denn Witwe Hete Häberle haßte Unordnung, und nie hätte sie einen liederlichen Herumtreiber und Zeittotschläger in ihr Haus und in ihre mütterlichen Arme genommen. Aber das eine Wort Gestapo öffnete ihm alle Pforten ihres mütterlichen Herzens, ein von der Gestapo Verfolgter war von vornherein ihres Mitleids und ihrer Hilfe sicher.
Denn ihren ersten Mann, einen kleinen kommunistischen Funktionär, hatte die Gestapo schon im Jahre 1934 in ein KZ abgeholt, und nie wieder hatte sie von ihrem Mann etwas gesehen und gehört, außer einem Paket, das ein paar zerrissene und verschmutzte Sachen von ihm enthielt. Obenauf hatte der Totenschein gelegen, ausgestellt vom Standesamt II, Oranienburg, Todesursache: Lungenentzündung. Aber sie hatte später von andern Häftlingen, die entlassen worden waren, gehört, was sie in Oranienburg und in dem nahegelegenen KZ Sachsenhausen unter Lungenentzündung verstanden.
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