Aber er schreckte wieder hoch. Es war da etwas in diesem Saale, das ihm die ersehnte Ruhe zerstörte. Er sah mit weit aufgerissenen Augen umher, und sein Blick fiel auf den Kammergerichtsrat a.D. Fromm, der am Geländer des Zuhörerraums stand und ihm Zeichen zu machen schien. Quangel hatte den alten Herrn schon vorher gesehen, wie überhaupt nichts seiner regen Aufmerksamkeit entgangen zu sein schien, aber bei den vielen erregenden Eindrücken dieses Tages hatte er nicht viel Notiz von dem früheren Hausgenossen aus der Jablonskistraße genommen.
Jetzt also stand der Rat an der Barriere und machte ihm Zeichen.
Quangel warf einen Blick auf die beiden Schupos. Sie standen etwa drei Schritte von ihm entfernt, keiner sah ihn an, und sie waren in ein sehr lebhaftes Gespräch vertieft. Quangel hörte gerade die Worte: »Und da faß ick den Bruder ins Jenick …«
Der Werkmeister war aufgestanden, hatte die Hosen fest mit beiden Händen gepackt und ging nun Schritt um Schritt durch die ganze Länge des Saales auf den Kammergerichtsrat zu.
Der stand an der Barre, den Blick hielt er jetzt gesenkt, als wolle er den herannahenden Gefangenen nicht sehen. Dann – Quangel war nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt – drehte sich der Kammergerichtsrat rasch um, ging zwischen den Stuhlreihen hindurch und auf die Ausgangstür zu. Aber, von ihm zurückgelassen, lag ein kleines weißes Päckchen, nicht einmal so groß wie ein Garnröllchen, auf dem Geländer.
Quangel machte die letzten Schritte, faßte zu und barg das Röllchen zuerst in der hohlen Hand, dann in der Hosentasche. Es hatte sich fest angefühlt. Er drehte sich um und sah, daß seine beiden Bewacher noch immer nicht seine Abwesenheit bemerkt hatten. Dann klappte eine Tür im Zuschauerraum, und der Kammergerichtsrat war fort.
Quangel begann seine Wanderung zurück zu seinem Platz. Er war ziemlich erregt, sein Herz klopfte, es schien unwahrscheinlich, daß dieses Abenteuer gut ausgehen sollte. Und was war dem alten Rat so wichtig erschienen, es ihm zuzustecken, daß er darum soviel gewagt hatte?
Quangel war nur noch einige Schritte vom Platz entfernt, als der eine Wachtmeister ihn plötzlich sah. Er fuhr erschrocken zusammen, warf einen verwirrten Blick auf den leeren Sitz Quangels, als wollte er sich überzeugen, daß der Angeklagte wirklich nicht mehr dort saß, und schrie dann fast in seinem Schreck: »Wat machen Sie denn da?«
Auch der andere Schupo fuhr herum und starrte Quangel an. In ihrer ersten Verwirrung standen beide wie angewurzelt, dachten gar nicht daran, den Gefangenen zurückzuführen.
»Ich möchte mal austreten, Herr Wachtmeister!« sagte Quangel.
Aber während der rasch beruhigte Polizist noch knurrte: »Da latschen Se jefällichst nich alleene los! Da melden Se sich jefällichst, Sie!« – während der Polizist noch so sprach, dachte Quangel plötzlich, daß er es nicht anders haben wollte als Anna. Sollten die ruhig ihr Urteil ohne die beiden Angeklagten verkünden, es würde ihnen viel von ihrem Spaß nehmen. Er, Quangel, war nicht neugierig darauf, weil er es nämlich schon kannte. Außerdem sehnte er sich danach, zu erfahren, was für eine Wichtigkeit ihm der alte Rat da zugesteckt hatte.
Die beiden Polizisten waren bei Quangel angelangt und faßten ihn bei den Armen, die doch die Hosen hielten.
Quangel sah sie kalt an und sagte: »Hitler, verrecke!«
»Was?« Sie waren verblüfft, trauten ihren Ohren nicht.
Und Quangel sehr schnell und sehr laut: »Hitler, verrecke! Göring, verrecke! Goebbels, du Aas, verrecke! Streicher, verrecke!«
Eine ihn unter dem Kinn treffende Faust machte das weitere Ableiern dieses Rosenkranzes unmöglich. Die beiden Schupos schleppten den bewußtlosen Quangel aus dem Saal.
So kam es, daß Präsident Feisler das Urteil doch ohne die beiden Angeklagten verkünden mußte. Umsonst hatte der höchste Richter über die Beleidigung des Anwalts gnädig hinweggesehen. Und Quangel behielt recht: die Urteilsverkündung machte dem Präsidenten ohne die Gesichter der beiden Angeklagten keinen Spaß mehr, nicht mehr den allergeringsten. Er hatte sich so schöne beschimpfende Formulierungen ausgedacht.
Während Feisler noch sprach, öffnete Quangel in seiner Wartezelle die Augen. Sein Kinn schmerzte, der ganze Kopf schmerzte, mühsam nur konnte er sich an das Geschehene erinnern. Seine Hand tastete sich vorsichtig in die Tasche: Gottlob, das Päckchen war noch da.
Er hörte den Schritt der Wache auf dem Gang, nun brach das Geräusch ab, und stattdessen wurde ein leiser, schürfender Laut von der Tür her vernehmlich: das Schutzschild wurde vom Spion zurückgeschoben. Quangel hatte die Augen geschlossen, er lag, als sei er noch immer bewußtlos. Nach einer endlos erscheinenden Frist kam wiederum das leise, schürfende Geräusch von der Tür her, und dann endlich von neuem der Schritt der Wache …
Der Spion war wieder geschlossen, die nächsten zwei, drei Minuten würde der Posten bestimmt nicht hereinsehen.
Quangel faßte schnell in die Tasche und brachte das Röllchen zum Vorschein. Er streifte den Faden ab, der es umspannte, entfaltete den Zettel, der um ein Glasröhrchen lag, und las die Maschinenschrift: »Blausäure, tötet schmerzlos in wenigen Sekunden. Im Mund verstecken. Für die Frau wird auch gesorgt. Zettel vernichten!«
Quangel lächelte. Der gute alte Mann! Der herrliche alte Mann! Er kaute das Zettelchen, bis es ganz naß war, und schluckte es dann herunter.
Neugierig betrachtete er die Ampulle, sah die wasserklare Flüssigkeit an. Rascher, schmerzloser Tod, sagte er sich. Oh, wenn ihr das wüßtet! Und für Anna wird auch gesorgt werden. Er denkt an alles. Guter alter Mann!
Er schob das Glasröhrchen in den Mund. Er probierte. Er fand, daß er es am besten zwischen Zahnfleisch und Backzähnen verbergen konnte, wie einen Stift, einen Priem, den viele Arbeiter in der Tischlerwerkstatt gebraucht hatten. Er tastete die Backe ab. Nein, er konnte von einer Erhöhung nichts spüren. Und wenn sie wirklich etwas merkten, ehe sie ihm das Ding fortnehmen konnten, hatte er zugebissen und es im Munde zermalmt.
Wieder lächelte Quangel. Jetzt war er wirklich frei, jetzt hatten sie keinerlei Gewalt mehr über ihn!
Das Totenhaus in Plötzensee beherbergt jetzt Otto Quangel. Die Einzelzelle des Totenhauses ist nun seine letzte Heimat auf dieser Erde.
Ja, jetzt liegt er auf einer Einzelzelle: Für die zum Tode Verurteilten gibt es keine Gefährten mehr, keinen Dr. Reichhardt, nicht einmal einen »Hund«. Die zum Tode Verurteilten haben nur noch den Tod zum Gefährten, so will es das Gesetz.
Es ist ein ganzes Haus, in dem sie leben, diese zum Tode Verurteilten, Dutzende, vielleicht Hunderte, Zelle an Zelle. Immer geht der Schritt der Wachen über den Gang, immer hört man Klirren, und die ganze Nacht bellen die Hunde auf den Höfen.
Aber in den Zellen die Gespenster sind still, in den Zellen ist Ruhe, man hört keinen Laut. Sie sind so still, diese Todeskandidaten!
Aus allen Teilen Europas zusammengeholt, Männer, Jünglinge, fast noch Knaben, Deutsche, Franzosen, Holländer, Belgier, Norweger, gute Menschen, schwache Menschen, böse Menschen, alle Temperamente vom Sanguiniker bis zum Choleriker, bis zum Melancholiker. Aber in diesem Hause verwischen sich die Unterschiede, sie sind alle still geworden, nur noch Gespenster ihrer selbst. Kaum je hört Quangel nachts ein Weinen, und wieder Stille, Stille … Stille …
Er hat die Stille immer geliebt. Diese letzten Monate hatte er ein Leben führen müssen, das seiner ganzen Wesensart entgegengesetzt war: nie mit sich allein, so oft zum Sprechen gezwungen, er, der doch alles Sprechen haßte. Nun ist er noch einmal, ein letztes Mal, zu seiner Art des Lebens zurückgekehrt, in die Stille, in die Geduld. Der Dr. Reichhardt war gut, er hat ihn vieles gelehrt, aber nun, dem Tode so nahe, ist es noch besser, ohne den Dr. Reichhardt zu leben.
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