Impressum
Kairos - Alleinerziehender Mörder mit Kind sucht Vergebung
Gerrit Stanneveld
Copyright: © 2014 Gerrit Stanneveld
Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-8460-7
Originaltitel: Kairos - Alleenstaande moordenaar
met kind zoekt vergeving
Fotografie: Norman Post. info@normanpost.nl
& Onno van Middelkoop. www.ovmfotografie.nl
Cover: © Gerrit Stanneveld
Übersetzung: Marion Seuring
Alle Rechte beim Autor. Nichts aus diesem Werk – auch nicht teilweise – darf mit Hilfe von Druck, Fotokopie, Scan, Mikrofilm oder auf irgendeine andere Weise ohne schriftliche Zustimmung des Autors vervielfältigt oder veröffentlicht werden.
Enthält Zitate von Karlfried Graf Dürckheim, Laotse, Francis Bacon, Alexander Puschkin, Ludwig Wittgenstein, Jacques Mesrine, Herbert Marcuse.
Für meinen Sohn KAIROS
Ich liebe dich von ganzem Herzen! J
Zum Gedenken an:
Gregor v/d Brand
Rene Dohmen
Johnny Jacht
Bert Smid
Graad Terlinde
Cor van Hout
Paul De Vries
“Vater, ich bin heimgekehrt.“
Kapitel I Über Raum und Zeit
Kapitel II Stille, die transformiert
Kapitel III Papillon
Kapitel IV Voulez – vous coucher avec moi
Kapitel V Karussell-Regime
Kapitel VI Vaya con dios
Kapitel VII Die Hölle des Nordens und der Teufel aus dem Süden
Kapitel VIII Katharsis
Kapitel IX Harry Slinger
Kapitel X Tapas und Wein
Epilog Lilian Ferru
Interview Gerrit WeekendGezet
Fragebogen Gerrit
Über Raum und Zeit
Ich weiß nicht, ob die Bilder authentisch sind, die vor meinem geistigen Auge erscheinen, wenn ich an die allerfrühesten Erinnerungen meiner Kindheit denke. Vielleicht visualisiert sich auch nur die Geschichte, die mir so oft darüber erzählt wurde. Wie dem auch sei, meiner Ansicht nach war es so. Ich war ungefähr vier und saß warm eingepackt vorne im Auto auf dem Schoß meiner Mutter. Bernie, der jüngste Bruder meiner Mutter, fuhr den Wagen. Das Wetter war unfreundlich und der Wind spielte mit dem großen amerikanischen Wagen, in dem wir fuhren. Die Scheibenwischer konnten die große Menge Regenwasser kaum bewältigen, die mit enormer Gewalt auf die Windschutzscheibe prasselte. Schuf, schuf, schuf, der Anblick faszinierte mich, das Hin und Her hatte etwas Beruhigendes. Bernie verlangsamte die Fahrt und bog rechts ab auf eine lange Auffahrt, die an beiden Seiten mit großen, vom Wind kahl gerupften Eichen gesäumt war. Er hielt vor einem großen Gebäude, und mit Leichtigkeit trug mich meine Mutter aus dem Wagen, hinaus in die Kälte, in Richtung des großen Hauses. Hinter der Tür hing an großen Messingringen eine dicke, lange Gardine gegen die Zugluft, so wie man sie früher in alten Kneipen sah. Einmal drinnen, konnte ich einen großen Saal mit vielen Erwachsenen und noch mehr Kindern überschauen. Alle redeten durcheinander, und die Lautstärke der Kakophonie überwältigte mich. Ich wurde auf eine Tischecke gesetzt, und meine Mutter fing an, mich auszupacken. Rechts von mir saßen Kinder und spielten mit einer Ritterburg. Die Burg war silberfarben und hatte eine Zugbrücke, Ritter und Pferde. Jemand hob mich hinunter und setzte mich auf den Boden. Die nächsten vier Jahre sollte ich zusammen mit meiner Halbschwester Annemiek und meinem Halbbruder Janus hier im Heim bleiben. Ich hatte nicht den gleichen Vater wie die beiden. Mein Nachname ist Stanneveld, und Annemiek und Janus heißen Vroeke mit Nachnamen. Ich war zu jung, um zu verstehen, dass ich nun in einem Kinderheim war, aber schon schnell lernte ich, was es bedeutete, hier zu sein. An den Moment, in dem meine Mutter gegangen ist, kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nicht, ob es dramatisch war oder ob ich geweint habe, auch nicht, ob ich mich verlassen und einsam gefühlt habe.
Im Kinderheim gab es Nonnen und in Zivil gekleidete Gruppenleiterinnen. Am Abend, vor dem Zubettgehen gab es für alle einen großen Esslöffel Lebertran. Ich fand es so widerlich, dass ich würgte und mich sofort übergeben habe. „Verdammt nochmal“, schrie eine dicke Gruppenleiterin, „und noch einmal… auf den Mund.“ Wieder musste ich mich übergeben, und alles war raus. Klatsch, klatsch, zwei Schläge mit der flachen Hand direkt in mein Gesicht. „So, und jetzt machst du es richtig!“ Der Schreck und das Erstaunen über so viel Gewalt ließen den Lebertran dieses Mal nicht wieder hochkommen. Vier Jahre sollte es von nun an so sein, kalt und kühl mit vielen Schlägen. Eine Einrichtung, in der es keinen Platz gab für Liebe und Zuneigung. Einmal wurde Janus Zeuge, als die dicke Gruppenleiterin mir ins Gesicht schlug. Rasend schnell sprang Janus auf, schnappte sich eine Stricknadel, die in einem Korb auf dem Tisch steckte, und stach die Nadel bis zur Hälfte in den Bauch des dicken Weibes. Dort ließ er sie stecken. Es dauerte einen Moment, bis die Dicke realisiert hatte, was geschehen war, doch als sie es dann merkte, sprang sie auf und lief laut schreiend mit der Stricknadel im Bauch los. In seinem ganzen Leben hat Janus nur zwei Dinge getan, für die ich ihm dankbar bin. Die Sache mit der Stricknadel ist eine davon. Nach diesem Vorfall brachte man ihn in ein viel strengeres Heim, eine Art Jugendgefängnis. In den darauffolgenden Jahren sollte ich Janus nicht mehr sehen, alleine blieb ich dort mit meiner Halbschwester zurück. Annemiek, die fünf Jahre älter war, sorgte für mich, soweit ein neunjähriges Mädchen dazu fähig war. Von ihr lernte ich, mir die Schuhe zu binden, sie half mir beim An- und Ausziehen und putzte mir meine Rotznase. Geräuschlos, ohne ein Gefühl für Zeit, gingen die Tage ineinander über. Höhepunkt war der wöchentliche Besuch meiner Mutter. Voller Erwartungen hielten wir sonntags Ausschau, ob wir schon etwas sahen. „Da kommt sie“, riefen wir, sobald wir sahen, dass der große rote amerikanische Wagen auf die Auffahrt einbog. Wie ein Filmstar stieg meine Mutter dann aus dem Wagen, gehüllt in eine Wolke Parfüm, das lange blonde Haar hochgesteckt, in einem teuren Chanel-Kostüm mit Nahtstrümpfen und hochhackigen Pumps. Im Sommer blieben wir, solange der Besuch dauerte, draußen. Heimlich schlich ich mich jedes Mal weg in den Schlafsaal, um meinen kleinen Pappkoffer zu packen, in der Hoffnung, dass ich mit ihr gehen durfte. Warum das nicht ging, verstand ich nicht! Und jedes Mal hörte ich nur: „Nein, jetzt noch nicht.“ – „ Es geht noch nicht.“ – „Ein anderes Mal.“ Es schien endlos zu dauern, bis dieses andere Mal kam. Todtraurig blieb ich zurück, und wieder sah ich, wie meine Mutter alleine wegging. Annemiek tröstete mich, obwohl es sie selber auch sehr geschmerzt haben muss. Nie bin ich auf den Gedanken gekommen, nach meinem Vater zu fragen. Ich war ein Kind, das bei Wind und Wetter, egal ob Sommer oder Winter, draußen war. Im Herbst spielte ich auf der Auffahrt, wo ich das Laub auf einen Haufen türmte, um dann hineinzuspringen. Ruhig lag ich dann so da und schaute hinauf… zu den Wolken, die vorbeizogen. Es war, als ob ich intuitiv fühlte, dass dort über Raum und Zeit eine Wirklichkeit lag. Wie lange ich so dalag, weiß ich nicht. Ohne ein Gefühl für Zeit verlor ich mich in diesen Momenten und fand es wunderbar. Ich lebte ganz im Hier und Jetzt, so wie Kinder das halt machen. Das Gefühl von leichtem Regen im Gesicht und den Geruch faulender Blätter in meiner Nase… so muss die Zeit an mir vorübergegangen sein, bis auch diese vier Jahre ein Ende fanden und wir wieder nach Hause durften. Was auch immer das heißen sollte. Ich verstand nur, dass wir hier weggehen würden. Ein Zuhause hatte ich bis jetzt noch nicht gehabt, das Kinderheim war alles, was ich kannte. Die Version meiner Mutter hierüber war immer die gleiche. Meine Mutter hatte einen Mann kennengelernt, Graad Thewis. Zusammen hatten sie einen Plan entworfen, um uns, die Kinder, aus dem Heim zu holen. Um die Erlaubnis zu bekommen, uns mitnehmen zu dürfen, würde man dem Jugendamt eine stabile Familiensituation vorspielen, man würde heiraten, ein Haus mieten und so weiter. Danach sollten sich ihre Wege wieder trennen. Mehr oder weniger ist es dann auch so gelaufen. Im Heerlener Stadtteil Nieuw-Einde hatten die beiden ein Haus gemietet. Es waren große Betonklötze, die wie ein Kuchen in sechs Einfamilienhäuser geteilt waren. Es war Anfang der 70er, als wir dort einzogen, der Vietnamkrieg war in vollem Gange, was ich durch die täglichen Nachrichten mitbekam und nie vergessen habe. Genau wie Flower Power, der Aufbruch in eine Zeit, in der alles erlaubt war. Diese Veränderung war spürbar und hing fast tastbar in der Luft.
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