Die Besitzerin des mißhandelten Sonnenschirms schritt mittlerweile an Günther’s Seite durch den Garten. Seit seinem Erscheinen war in dem Wesen des Fräuleins eine merkwürdige Veränderung vorgegangen, sie zeigte sich nicht im mindesten geneigt, sich auf die vorhin so eifrig herbeigewünschte Autorität zu stützen, im Gegentheil, sie setzte sich ihr gegenüber in eine Art Kriegsbereitschaft, augenscheinlich entschlossen, ihren eben noch so hart gescholtenen Zögling auf Tod und Leben zu vertheidigen. Ob Günther etwas davon ahnte, oder ob er die Taktik des Fräuleins bereits kannte, genug, er ließ den eigentlichen Hauptgegenstand des Gesprächs vorläufig fallen.
„Ich habe soeben einen Brief des Baron Brankow erhalten,“ begann er ruhig, „eine Einladung zu dem morgen auf seinem Gute stattfindenden Feste. Die Sache kommt mir ebenso überraschend als unangenehm, da ich dem Baron weder einen Besuch gemacht, noch mich überhaupt jemals um ihn gekümmert habe. Man wird wohl seine Gründe haben, indessen die Zuvorkommenheit ist, äußerlich wenigstens, eine so auffallende, daß sie sich nicht zurückweisen läßt. Es würde aussehen wie eine Flucht vor der Nachbarschaft, und in den Verdacht möchte ich mich denn doch nicht bringen. Ich habe also angenommen.“
Das Fräulein hatte schweigend und sichtbar befremdet zugehört. „Und Lucie?“ fragte sie endlich.
„Lucie ist gleichfalls eingeladen, ich hatte auch die Absicht, sie mitzunehmen, da sie Ihnen aber Grund zur Klage giebt, so wird sie wohl zu Haus bleiben müssen.“
„Warum nicht gar!“ fiel das Fräulein halb erschreckt, halb entrüstet ein. „Sie wollen sie doch nicht etwa gar strafen, einer Kinderei wegen, um deren willen ich sie schon hinreichend ausgescholten habe? Das arme Kind!“ hier traf ein diesmal ganz und gar entrüsteter Blick den Gutsherrn, „das arme Kind sitzt tagaus tagein hier in Dobra, ohne passenden Umgang, ohne Altersgenossen; ist es da ein Wunder, wenn es auf allerlei Thorheiten verfällt? Und nun wollen Sie ihm auch noch das einzige Vergnügen rauben, das sich wirklich einmal darbietet! Lucie weint den halben Tag lang, wenn sie es erfährt, und das –“
„Können Sie nicht mit ansehen!“ vollendete Günther spöttisch. „Mir scheint, Fräulein Reich, wenn Sie auch mit Lucie nicht fertig werden können, Lucie ist längst mit Ihnen fertig geworden, wie überhaupt mit ganz Dobra.“
„Sie ausgenommen!“ ergänzte das Fräulein, aber wenn sie mit den Worten ein Compliment beabsichtigte, so verdarb sie Alles wieder durch den Nachsatz, der ihr im vollen Aerger herausfuhr. „Mit Ihnen ist überhaupt nicht fertig zu werden!“
„Meinen Sie?“ fragte Günther sehr gelassen, indem er die Arme kreuzte und sie mit unzerstörbarer Ruhe anblickte.
„Ja, das meine ich!“ erklärte Fräulein Reich, noch mehr gereizt durch diesen Gleichmuth. „Ich nehme mir die Freiheit, zu behaupten, daß ich denn doch zehn Mal lieber mit Luciens Quecksilbernatur zu thun haben will, als mit Ihrer entsetzlichen Gelassenheit, die durch nichts aus der Fassung zu bringen ist, an der Alles abgleitet, was einen vernünftigen Menschen zur Verzweiflung treiben könnte, und vor der gleichwohl ganz Dobra zittert!“
„Sie ausgenommen!“ parodirte Günther, der den ganzen Ausfall hingenommen hatte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.
„Ich?“ Das Fräulein hob sehr entschieden den Kopf; „ich habe in meinem ganzen Leben überhaupt noch vor Niemand gezittert, und vor Ihnen –“
„Am allerwenigsten! Bitte, scheuen Sie sich nicht, den Nachsatz auszusprechen, ich lese ihn doch deutlich genug aus Ihrem Gesicht.“
Fräulein Reich wandte sich ärgerlich ab, augenscheinlich bemüht, ihr heißblütiges Temperament niederzukämpfen.
„Ich habe es Ihnen vorher gesagt, als Sie mich von N. herberiefen,“ sagte sie kurz, „wir würden uns hier ebenso wenig vertragen, uns genau ebenso oft zanken, wie einst in unserem Dorfe, wenn Sie vom Forsthaus in das Pfarrhaus kamen.“
Günther zeichnete gleichgültig mit seiner Reitpeitsche Figuren in den Sand. „Ja, richtig! Sie konnten niemals Ruhe halten!“
„Bitte um Entschuldigung, Sie waren es, der nie Ruhe gab, bis der Zank im vollen Gange war; ich hatte genug zu thun, mich nur zu wehren.“
„Nun, was das Wehren anbetrifft –“ meinte Günther trocken. „Franziska Reich verstand es von jeher, dem ‚unerträglichen Bernhard‘ die Spitze zu bieten.“
Das Antlitz des Fräuleins überflog eine leichte Röthe bei dieser in früheren Tagen wahrscheinlich oft ausgesprochenen Reminiscenz aus der Jugendzeit. „Bernhard Günther ist inzwischen im Leben emporgekommen!“ sagte sie plötzlich ernst, aber ohne die geringste Bitterkeit, „und Franziska Reich ist die arme Pfarrerstochter geblieben, die sich als Gouvernante ihr Brod verdienen muß. Wir stehen nicht mehr gleich auf gleich wie damals.“
„Und doch lesen Sie Mir den Text genau so wie damals.“
„Werden Sie Lucie mitnehmen?“ fragte das Fräulein kurz abbrechend.
Günther schien etwas verstimmt durch dies entschiedene Vermeiden des von ihm angeregten Themas. „Auf Ihre Verantwortung!“ sagte er ebenso kurz und wandte sich zum Gehen.
„Auf meine Verantwortung!“ bestätigte das Fräulein, indem sie ihm gleichfalls ohne alle Ceremonien den Rücken wandte und nach der Laube zurückkehrte, wo sie ihren Zögling noch im besten Spiel mit dem Hunde, und ihren Sonnenschirm unter den Zähnen des letzteren fand.
Die empörte Dame schlug die Hände über dem Kopf zusammen, sie warf den Hund vom Tische, setzte sich energisch in Besitz ihres Eigenthums und begann Lucien eine erneute Strafrede zu halten, worin sie ihr zu Gemüth führte, daß sie ganz und gar nicht der Vergünstigung werth sei, die man ihr eben noch ausgewirkt, aber Lucie ließ ihr keine Zeit zu endigen. Sobald sie erfuhr, um was es sich handelte, sprang sie mit einem lauten Schrei des Entzückens empor und überfiel die Erzieherin förmlich mit so ungestümen Liebkosungen, daß der kleine Hund, der mit jener ohnehin nicht auf besonders freundschaftlichem Fuße stand, auf die Idee gerieth, es gelte hier einen Angriff, und in pflichtschuldiger Unterstützung seiner jungen Herrin laut bellend nach dem Kleide des Fräuleins fuhr.
„Um Himmelswillen!“ rief diese empört, „wollen Sie mich von oben todtdrücken und von unten zerreißen lassen? Bringen Sie das kleine Ungethüm zur Ruhe und lassen Sie mich los, oder ich rufe um Hülfe!“
Lachend beruhigte Lucie den Hund, aber die Zeichenstunde fortzusetzen, erwies sich als unmöglich. Das ganze Köpfchen der [ 40] jungen Dame wirbelte bei dem Gedanken an diese erste große Gesellschaft, die sie mitmachen sollte, zuerst kamen Erkundigungen über das Wo, Wie und Wann, dann wurde die Toilettenfrage erörtert – die Erzieherin sah, daß heute absolut nichts mehr zu erreichen war, sie gab den Unterricht auf.
„Lucie,“ sagte sie feierlich, „es giebt zwei Dinge auf der Welt, die ich noch zu erleben wünschte, aber leider liegen sie alle beide im Bereiche der Unmöglichkeit. Ich möchte den Menschen sehen, der im Stande ist, Sie zum Ernst und zur Vernunft zu bringen, und ich möchte das Wesen kennen lernen, das fähig wäre, Ihren Bruder auch nur um ein Haar breit von dem abzubringen, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat zu thun. Ihr Geschwister seid zwei Gegensätze, die nur eine Aehnlichkeit miteinander haben – es ist mit beiden nichts anzufangen!“
Das Fest, mit welchem Baron Brankow seinen Namenstag feierte, hatte bereits seinen Anfang genommen. Das dortige Herrenhaus konnte nun freilich nicht im Entferntesten mit dem großartigen Aufwande, der in der Prälatur des Stifts, oder der schweren alterthümlichen Pracht, die in Schloß Rhaneck herrschte, den Vergleich aushalten, es war eben nur der einfache Sitz eines Landedelmannes aus gutem alten Hause; aber dies Haus war reich und gastfrei, und hatte sich dadurch zu einer Art von Mittelpunkt für die Geselligkeit der Umgegend gemacht. Man kam gern zu diesen Festen, und auch heute war die zahlreich geladene Gesellschaft ebenso zahlreich erschienen. Baron Brankow, ein kleiner freundlicher Herr, gutmüthig, eifrig und herzlich, ohne besondere aristokratische Würde, aber dafür mit allen Eigenschaften eines guten Wirthes begabt, empfing seine Gäste und geleitete soeben den Prälaten, der vor wenig Minuten angekommen war, zu einem Sessel am oberen Ende des Saales.
Читать дальше