Günther erfuhr in Folge dessen nur selten etwas von solchen Vorgängen. Durch seine Thätigkeit meist draußen festgehalten, fand er in der That nicht viel Zeit, sich um das Haus und um seine Schwester zu kümmern. Im Ganzen behandelte er sie mit ziemlicher Nachsicht, wie ein verzogenes Kind, dessen Launen und Thorheiten man hingehen läßt, so lange sie unschädlich sind, und denen man mit einem einfachen Verbot ein Ende macht, sobald sie anfangen, unbequem zu werden. Er ließ Lucie meistentheils gewähren, sobald es sich aber um irgend eine ernste Angelegenheit handelte, schob er sie ohne Weiteres als gänzlich überflüssig und unzurechnungsfähig bei Seite. Freilich wurde das Selbstgefühl der jungen Dame dadurch auf’s Tiefste verletzt, aber sie hatte bereits hinreichend erfahren, daß bei dem Bruder mit Bitten und Schmeicheln ebensowenig auszurichten war, wie mit Schmollen und Weinen, und diese Erfahrung war denn auch die einzige Rücksicht, die ihrem Uebermuth einen heilsamen Zügel auferlegte, der sich, sobald Bernhard nur den Rücken wandte, Alles erlaubte und auch Alles erlauben durfte. Dieser Mann mit seinem scheinbar so nichtssagenden Gesicht und seiner so gleichgültigen Ruhe, die nichts überstürzte, aber auch nichts verzögerte, und stets zur rechten Zeit und am rechten Orte eingriff, wußte, wie er ganz Dobra in Respect hielt, auch seine junge Schwester in Respect zu halten, und letzteres war nach der unumstößlichen Meinung von deren Erzieherin jedenfalls das Schwerere von beiden.
„Nein, Lucie, das geht denn doch etwas zu weit! Ich sollte meinen, wir hätten Alle schon genug von Ihren Koboldstreichen zu leiden gehabt, daß Sie nun endlich Ruhe geben könnten, aber dieser letzte übersteigt wirklich alle Begriffe!“
Die Erzieherin, welche diese Strafpredigt hielt, während sie in aller Majestät einer zürnenden Gouvernante vor ihrem Zöglinge stand, gehörte nun allerdings nicht zu jener Kategorie, die Lucie in ihrem Protest dem Bruder gegenüber so treffend gekennzeichnet hatte. Es bedurfte nur eines einzigen Blickes auf diese resolute Dame, um sie von dem Vorwurf der Nervosität ein für alle Mal frei zu sprechen, und wer die energischen Bewegungen sah, mit denen sie ihre Rede begleitete, kam auch nicht mehr in Versuchung, sie für steif zu halten. Fräulein Reich mochte bereits im Anfange der Dreißig stehen, konnte aber dessen ungeachtet noch für hübsch gelten. Groß und kräftig gebaut, mit starken, aber nicht unangenehmen Zügen, blond und helläugig war sie jedenfalls eine äußerst stattliche Erscheinung, und obgleich ihre Stimme jetzt in allen Tonarten des Zornes grollte, und sie dabei wie aus einem Donnergewölk auf ihre kleine zarte Pflegebefohlene herabblickte, machte dieser Zorn doch einen mehr komischen als widerwärtigen Eindruck, man konnte sich dabei des unwillkürlichen Gedankens nicht erwehren, daß es nicht so schlimm gemeint sei, als es aussah.
Fräulein Lucie saß in der Laube und zeichnete; sie hatte den Kopf tief auf die Arbeit herabgebeugt, ob aus Zerknirschung über die Strafpredigt, leider nicht die erste, die ihr gehalten ward, oder um das verrätherische Zucken ihrer Mundwinkel zu verbergen, ließ sich nicht entscheiden, jedenfalls zeichnete sie sehr eifrig und beachtete ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit nicht im Geringsten das Bitten und Schmeicheln ihres kleinen Hundes, der neben ihr auf der Bank lag und große Lust zum Spielen zeigte.
„Es ist himmelschreiend!“ eiferte die Gouvernante weiter. „Da hat die arme, alte Person, die Wirthschafterin, unglücklicherweise verrathen, daß sie abergläubisch ist, und seitdem spukt es allabendlich im ganzen Schlosse, auf allen dunklen Gängen und finsteren Corridoren, so daß Niemand von den Leuten sich mehr aus der Thür wagt und Frau Schwast beinahe krank geworden ist vor Schreck. Sie werden noch einmal ein Unglück anrichten mit ihren heillosen Einfällen!“
„Es spukt im Schlosse?“ fragte Lucie, indem sie den Kopf hob und ihre Gouvernante mit der unschuldigsten Miene von der Welt anblickte. „O, das ist ja merkwürdig!“
„Merkwürdig? Abscheulich ist es! Denken Sie, ich wüßte nicht, wer die gottlosen Jungen des Inspectors wieder zu der Gespensterkomödie angestiftet hat und wer eigentlich den ganzen Geisterapparat erfindet und leitet? Aber ich werde Herrn Günther die Sache vortragen, und dann gnade Gott den Gespenstern, wenn ihm eins davon in die Hände fällt!“
„Ach nein, sagen Sie nur Bernhard nichts davon!“ rief Lucie erschreckt; „es soll nicht mehr spuken, gewiß nicht mehr!“
Fräulein Reich schüttelte grollend das Haupt. „Also läßt man sich doch endlich zum Geständniß herbei. Sie sollten sich schämen, Lucie, so mit den Knaben herumzutollen, während Sie doch schon eine erwachsene junge Dame sein wollen, aber Ihnen steckt die Kinderei noch ganz und gar im Kopfe. Das ist überall und nirgends, das dreht und wendet sich mir unter den Händen mit Lachen und Schmeicheln, und während ich Sie wegen des einen Postens zur Rede stelle, sinnen Sie schon wieder auf einen neuen, der sicher hinter meinem Rücken ausgeführt wird. Das ganze Haus hilft Ihnen ja leider Gottes dabei, Alles haben Sie mit Ihren Thorheiten angesteckt, Alles ist im Complot mit Ihnen, man müßte hundert Augen und Hände haben, um solch einer Quecksilbernatur Herr zu werden. Sie werden mir das Zeugniß geben, daß ich nicht zu den Schwachen und Nachsichtigen gehöre, ich hatte auf der Schule in N. eine ganze Classe widerspenstiger, lärmender Schüler in Ordnung zu halten, und ich habe sie in Ordnung gehalten, aber mit einem solchen Wildfang wie Sie fertig zu werden, das versuche eine Andere – ich gebe es auf!“
„Was geben Sie auf?“ fragte plötzlich Günther’s Stimme, der unbemerkt den Gang heraufgekommen war, und jetzt in die Laube trat. Lucie fuhr von ihrem Sitze empor und sprang ihm entgegen, ohne sich im Mindesten darum zu kümmern, daß sie dabei die Zeichenmappe vom Tische herabriß und die Blätter nach allen Richtungen hin auseinanderflatterten.
„Bernhard, vor einer Stunde war ein Bote des Baron [ 39] Brankow hier, der Dir persönlich einen Brief übergeben wollte. Wir wußten nicht, wohin Du geritten warst. Hat er Dich gefunden?“
Günther nahm ruhig seine Schwester beim Arm und drehte sie nach dem Tische herum. „Willst Du nicht vor allen Dingen die. Güte haben, Deine Zeichnungen wieder aufzunehmen? – Was wollten Sie ein für alle Mal aufgeben, Fräulein Reich?“
Das Fräulein schien in dem heftigen Erguß von vorhin ihren Vorrath an Zorn so ziemlich erschöpft zu haben, und zum Ueberfluß stahl sich nun auch Lucie, die eiligst die umhergestreuten Blätter aufgerafft hatte, an ihre Seite. Sie legte schmeichelnd den linken Arm um ihre Gouvernante und lehnte den Kopf an deren Schulter, das Fräulein machte zwar einen unwilligen Versuch, sich zu befreien, aber es blieb bei dem Versuche, denn die kleine Hand hielt fest und die Antwort fand demzufolge auch in bedeutend herabgestimmtem Tone statt.
„Ich habe Lucien wieder einmal eine Vorlesung halten müssen, sie ist leider unverbesserlich!“
„So, nun da werde ich wohl einschreiten müssen!“ meinte Günther, dem das Manöver seiner Schwester nicht entgangen war. „Ich wollte Sie ohnedies bitten, mich auf einem Gang durch den Garten zu begleiten, da ich mit Ihnen etwas zu besprechen habe; Lucie mag inzwischen weiter zeichnen.“
Die kleine Hand lag noch immer schmeichelnd auf dem Arme, und jetzt unterstützten auch die Augen sehr beredt jene stumme Bitte; das Fräulein wandte denn auch zwar mit einer ärgerlichen Bewegung den Kopf seitwärts, aber aller Groll war aus ihren Zügen verschwunden, und triumphirend und gänzlich unbesorgt über den Ausgang des Gesprächs kehrte Lucie zu ihrem Sitz zurück, – weiter zu zeichnen. Sobald ihr die Beiden nämlich aus dem Gesicht waren, warf sie den Stift bei Seite, hob ihren kleinen Hund auf den Tisch, setzte ihn mitten unter die Zeichnungen und begann ihn zu necken, mit dem ersten Besten, was ihr in die Hände fiel, in diesem Falle mit dem Sonnenschirm ihrer Gouvernante, der unglücklicherweise neben ihr auf der Bank lag, und den sie nun ganz rücksichtslos den Pfoten und Zähnen des Thieres preisgab.
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