„Nun aber ist’s genug!“ sagte Bernhard endlich und zog ihre Arme in den seinigen. „Jetzt bleibst Du an meiner Seite, dort drüben ist bereits der Ausgang des Waldes, wo der Wagen uns erwartet.“
„Schon? O laß mich nur noch einen Blick in die Schlucht dort thun, nur einen einzigen! Ich muß durchaus wissen, wo der kleine Bach herkommt, der dort drüben plätschert; in zwei Minuten bin ich wieder zurück.“
Und fort war sie, Bernhard sah den blauen Schleier bereits wieder drüben an der Felswand flattern und in der nächsten Minute dahinter verschwinden.
„Nun Gott sei Dank, eine geschraubte Modedame wenigstens hat die Pension nicht aus ihr gemacht! Das ist noch ganz das Kind, das ich vor vier Jahren dorthin brachte,“ sagte er, mit dem Ausdruck tiefster Befriedigung ihr nachblickend, und blieb geduldiger, als es wohl sonst seine Art war, stehen, um ihre Rückkehr zu erwarten.
Lucie hatte inzwischen die Schlucht erreicht und blickte neugierig hinein; es war ein reizendes Stück Waldeinsamkeit, das sich hier vor ihren Blicken aufthat. Rauschend und silberhell kam der Bach von der Höhe herab und stürzte, über glatte Kiesel und moosige Steine, an dunklen Felswänden vorüber, in den Wald hinein. Darüber wölbten sich hohe Buchen und dazwischen grünte weiches Moos und rankte sich blühendes Gesträuch – es war ein Ort, so recht zum Träumen und Sinnen geschaffen, aber gerade dies lag der jungen Dame himmelweit entfernt. Ihr erster Blick galt dem Orte selbst, ihr zweiter einem Himbeerstrauch, der, in der Felswand wurzelnd, mit einer Fülle dunkelrother Beeren über den Bach hinaushing. Das sehen und einen unbezwinglichen Appetit danach verspüren, war für Lucie Eins; vergessen war das Versprechen, sogleich zurückzukommen, vergessen das drohende Stirnrunzeln des Bruders. Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, trat sie sofort den Weg nach der Felswand an; daß er mitten durch den Bach ging, kümmerte sie durchaus nicht. Ihr Kleid zusammennehmend, sprang sie leicht wie eine Elfe von Stein zu Stein. Das Wasser rieselte unter ihren Füßen und durchnäßte völlig die beiden Residenzstiefelchen, die für Spaziergänge im Gießbach wohl nicht berechnet waren, aber das erhöhte nur ihr Vergnügen; sie lachte laut auf, wenn die hellen Wassertropfen emporspritzten oder das niederhängende Gezweige ihre Stirn streifte. Der kleine Strohhut hatte sich schon beim ersten Schritt als zu lästig erwiesen, er hing am Arme und mußte einstweilen die duftende Fülle der im Walde gepflückten Blumen bergen; die Locken, von keinem Bande mehr gehalten, wehten lose um Hals und Schultern; dabei ging es vorwärts, über Felsgeröll, Baumwurzeln und Wassersturz, immer aufwärts, den Bach hinauf. Je schwieriger der Weg, desto größer wurde der Eifer, das junge Mädchen war nur eine Jugendlust, ein jubelnder Uebermuth, und jetzt endlich stand sie oben, hell beschienen von dem Sonnenstrahl, der durch das Laubdach drang und gerade auf das rosige Kinderantlitz fiel, mit flatternden Locken, mit glühenden Wangen und strahlenden Augen, und streckte die Hand nach dem ersehnten Gesträuche aus.
Aber plötzlich ließ sie dieselbe wieder sinken und stieß einen leisen Ausruf des Schreckens aus. Drüben vom Rande der Felswand blickten ein Paar große unheimlich tiefe und dunkle Augen starr zu ihr herüber, und als sie erschreckt noch weiter zurückwich, tauchte eine Gestalt in langem schwarzem Gewande aus dem Gebüsch hervor, und stand hochaufgerichtet ihr gegenüber.
Die erste Regung Luciens war, trotz der so nachdrücklich betonten sechszehn Jahre, eine ganz gründliche Gespensterfurcht, und ihre erste Bewegung ein Versuch davon zu laufen, aber schon im nächsten Augenblick siegte die Vernunft. Gespenster am hellen Mittage! Während die Sonne so goldig durch die Buchenzweige schien und der Bach zu ihren Füßen so lustig plätscherte, als wolle er sie auslachen über ihre kindische Angst – sie nahm allen Muth zusammen und wagte einen zweiten Blick hinüber.
[ 22] Da sah sie nun allerdings, daß es ein Mensch war, der dort drüben stand, ein Mann in langem geistlichem Talar, der bisher im Moose gelegen und von dort aus vermuthlich den ganzen Spaziergang durch den Gießbach mit angesehen hatte. Das Buch, in dem er gelesen, lag noch am Boden, er selbst aber stand mit verschränkten Armen und blickte düster und unverwandt auf sie hin.
Also ein Geistlicher, der wahrscheinlich seine Predigt einstudirte, und der hatte sie so erschreckt! Luciens ganzer Uebermuth kam zurück; ohne sich weiter um den fremden Zuschauer zu kümmern, der ihr jetzt ganz und gar kein Interesse mehr einflößte, begann sie eine gründliche Plünderung des Himbeergesträuches und schickte sich dann an, den Weg, den sie gekommen war, wieder hinabzusteigen.
Jetzt aber mußte sie bei dem Fremden vorüber, er stand noch immer wie angewachsen, ohne sich zu regen, und dabei stand er gerade auf einem der großen Steine, die den Pfad durch den Bach bildeten. Der unhöfliche Mann dachte nicht daran, auch nur einen Schritt zur Seite zu treten, trotzdem er doch sah, daß sie hinab wollte. Lucie begann sich über diese Rücksichtslosigkeit zu ärgern, sie setzte nachdrücklich ihr Füßchen in’s Wasser, daß es hoch aufspritzte, um ihm begreiflich zu machen, wie sehr störend ihr sein Standpunkt sei, und warf ihm einen ihrer allerungnädigsten Blicke zu.
Dabei begegnete sie aber zum zweiten Male seinen Augen, die noch immer unbeweglich auf ihrem Antlitz ruhten, gerade so starr und düster wie vorhin. Es mußte doch etwas Gespensterhaftes in dem Manne sein, denn dem jungen Mädchen ward auf einmal glühend heiß unter diesem seltsamen Blick, die ganze vorige Angst kam verdoppelt zurück, sie wünschte sich weit weg in die schützende Nähe des Bruders und doch stand sie wie gefesselt von einer fremden Macht und wagte keinen Schritt vor- oder rückwärts zu thun. So vergingen in paar beängstigende Secunden, da endlich wich der unheimliche Fremde langsam zur Seite, er gab den Weg frei und wie ein gescheuchtes Reh flog Lucie an ihm vorüber, den Bach hinab, und in den Wald hinein.
Hier kam ihr Bernhard, durch ihr langes Außenbleiben beunruhigt, bereits entgegen. „Sind das etwa die gewünschten zwei Minuten? Du scheinst wirklich – aber was hast Du denn, Kind, Du siehst ja ganz verstört aus!“
Lucie hing sich fest an seinen Arm, jetzt, wo sie sich geschützt wußte, brach der alte Uebermuth schon wieder durch, sie warf noch einen scheuen Blick zurück nach der Schlucht, aber es zuckte bereits schelmisch um ihre Lippen, als sie antwortete:
„Ich bin dem Währwolf begegnet, von dem es in den Märchen heißt, daß er in Menschengestalt umgehe! Drüben stand ein Mann, so finster und unheimlich, er trug einen langen schwarzen Talar –“
„Das wird einer von den Mönchen des Stiftes gewesen sein,“ meinte Bernhard gleichgültig. „Die Herren Benedictiner pflegen zwar sonst nicht gerade die einsamen Waldgründe aufzusuchen, wenn sie sich außerhalb des Klosters amüsiren! – Das Ordenskleid also hat Dich so erschreckt?“
Lucie sah zu Boden und schüttelte den Kopf. „Nicht das Kleid,“ sagte sie leise, „der Blick war es. Er hatte so seltsame Augen, wahre Gespensteraugen!“
Das Spottlächeln von vorhin erschien wieder auf dem Gesicht des Bruders. „Dein Heroismus scheint nur den Gouvernanten gegenüber zu existiren! Noch vor einer Viertelstunde prahlst Du damit, Dein ganzes Pensionat in Schach gehalten zu haben, und jetzt läufst Du vor einem Mönchsgewand und einem Paar Mönchsaugen davon. In der That, eine rechte Heldenseele, die ich da in meiner Schwester entdecke!“
Lucie wollte auffahren und sich eifrig gegen den Vorwurf vertheidigen, aber das Wort erstarb ihr auf den Lippen; denn in diesem Augenblick traten sie aus dem Walde auf die Höhen hinaus, und eine prachtvolle Gebirgslandschaft rollte sich vor ihren Blicken auf. Rauschend schoß der Bergstrom durch ein weites offenes Thal, im hellsten Sonnenstrahl schimmerten Flecken, Dörfer und einzelne Gehöfte, theils am Strome, theils am Bergeshang zerstreut liegend, von nah und fern herüber, dazwischen leuchtete das sonnige Grün der Matten, die ringsum all die tiefer gelegenen Höhen umkränzten, und darüber hinaus strebten dunkle Tannenwälder höher und höher an den Bergwänden empor, bis zum Gipfel hinauf. Im Vordergrunde lag ein Schloß, eine malerische alte Bergveste, die gerade hinab zum Strom blickte, aber so kühn es sich auch auf seinem Felsen hob, und so trotzig die grauen Erker und Söller aus dem Tannengrün hervorschauten, es trat doch zurück vor dem mächtigen, schloßartigen Gebäude, das sich ihm gegenüber auf einer Anhöhe ausdehnte, von weiten Gärten umgeben, mit Mauern und Pfeilern, die wie für die Ewigkeit gegründet schienen, mit langen Fensterreihen und zwei prachtvollen Thürmen über dem Hauptportal. Die Sonnenstrahlen fielen mit vollster Kraft auf die leuchtend weißen Mauern; vom hellsten Mittagsglanz umflossen lag die Benedictinerabtei stolz und mächtig da, weithin das Thal beherrschend, die Krone und der Mittelpunkt des ganzen herrlichen Landschaftsgemäldes, und über das alles hinaus hoben sich die riesigen Häupter des Gebirges, von blauem Duft umwoben, und ragten ernst und gewaltig hinein in die sonnige Welt.
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