Ich habe lange diese bestimmte Grenze beachtet, die ich einhalten sollte (wollte?). Ich bin keine Heilige, aber ich bin auch keine Schlampe! Wenn wir gerade bei Heiligen sind: Es gibt auch noch Phil, ein weiterer Freund. Der ist ein Heiliger und vielleicht auch ein Intellektueller. Das behauptet er zumindest. Jedenfalls haben wir eine sogenannte platonische Beziehung, und eine sehr gute. Aber um ihn bin ich auch besorgt. Das werde ich alles noch erklären, ich bin ja erst am Anfang.
Diese Grenze ist mir also von meiner Mutter eingeimpft worden. Ich hätte damals natürlich irgendwann sagen können: Was geht mich dieses Versprechen an meine Mutter an? Ich war damals jung und dumm!
Aber ich bin ja auch nicht ganz blöd, ich habe nämlich in diesen jungen Jahren auch meine Beobachtungen gemacht. Ich muss ehrlicherweise zugeben: Manches, was ich mitgekriegt habe, bestätigt die Meinung meiner Mama. Mädchen, die zu schnell mit ihrem Freund vögeln, weil er so darauf drängt („Ach, du liebst mich nicht, sonst würdest du nicht immer Nein sagen“), werden dann oft als eine bitch eingeschätzt. Wenn die Geilheit der Jungs befriedigt ist, sagt einer zum andern: „O, die Billa, eine super gute Matratze, probier sie mal aus“, oder das ausgelutschte, aber immer noch beliebte: „Doro ist gut zu vögeln“. Und wenn man gewisse Bilder von sich machen lässt („Ach Baby, ich möchte deinen Körper Tag und Nacht bewundern!“), kann man dann irgendwann im Internet von der ganzen Welt besichtigt werden. Das ist viel schlimmer als im Mittelalter bei den Frauen am Pranger.
Mein Versprechen an Mama habe ich also gehalten, weil es mir logisch erschien. Trotzdem habe immer wieder gedacht: Wenn vor dem „richtigen Alter“ wirklich etwas Unvorhergesehenes passiert – zum Beispiel die große Liebe – dann kann ich nicht mehr die folgsame Tochter sein!
Ich habe schon einiges mitgemacht, ich bin ja auch bloß eine Frau, die – siehe oben – Liebe und Zärtlichkeit braucht. Und ich muss ja Erfahrungen sammeln, das sagt jeder. Man muss Männer oder die, die sich dafür halten, kennen lernen, um sie beurteilen zu können, um den richtigen zu finden: Ist dieser Beau eine taube Nuss oder ein Superman? Oder: Ist dieser hässliche Frosch vielleicht ein Prinz? Und wenn man sich festlegt hat und gar heiraten will, muss man eine Prognose stellen für die Zukunft von Jahrzehnten. Daran will ich lieber nicht denken, noch nicht.
Ich muss also noch viel lernen, noch viele Männer checken, erproben, ausprobieren, testen ... Wie das klingt, so richtig frivol - oder so richtig unternehmungslustig! Aber das ist reine Theorie, in Wirklichkeit schaffe ich das nicht, ich nehme alles zu schwer. Wenn ich da an manche Mitschüler denke, Mädchen und Jungs, die – poetisch ausgedrückt – wie Schmetterlinge von Blüte zu Blüte schwirren und jeden Wechsel ohne irgendwelche Skrupel oder gar Tränen verkraften. Ich kenne da eine, aber von der später! Schön wäre für mich eine unfehlbare Checkliste für die Erprobung von Männern als Ehemann. Das wäre super, aber so was ist halt Illusion!
Man hat es leichter, Männer zu testen, wenn man als Frau einigermaßen gut aussieht und auf sie (die Männer) wirkt. Ich habe natürlich wie viele andere Mädchen schon viel Zeit vor dem Spiegel zugebracht und mich kritisch beurteilt. Ich bin nicht zufrieden mit mir, aber es könnte schlimmer sein. Schön bin ich auf keinen Fall, ich halte mich für mittelhübsch.
Väter dazu zu fragen, bringt normalerweise nicht viel, sie sind ja Partei. Aber ich habe es bei meinem besonderen Papa versucht, als er mal zufällig daheim war. Ich habe den Mut gefasst, ihm eine Frage dazu zu stellen, da war ich siebzehn Jahre alt, kurz vor der Sache mit Joe. „Beurteile mich mal mit den Augen eines Mannes, nicht als Vater“, forderte ich ihn streng auf. Wir waren allein.
„Oho“, antwortete er, „mein Töchterchen wird nicht nur bald volljährig, es wird erwachsen!“
„Bitte!“, sagte ich ungeduldig, weil mein Mut sank.
„Stell’ dich dahin“, sagte er aus seinem Sessel im Wohnzimmer heraus und wies zum Fenster. „Dreh’ dich mal – mal schnell und mal langsam!“ Ich machte getreu alles, was er sagte und war gespannt. Der weite Rock, den ich damals wegen meiner Beine extra angezogen hatte, schwang um mich herum.
„Jetzt komm her und sieh mich an!“ Er war aufgestanden und schaute mir ins Gesicht. „Ich versuche, ganz objektiv zu sein ... und schonungslos“, sagte er mit gekrauster Stirn, „du willst ja nicht, dass ich dir schmeichle ...“
Ich wurde immer nervöser und erwartete nun das Schlimmste.
„Du hast meine Figur, bist aber nicht zu groß, lange schöne Beine, das ist ja alles positiv“, er lächelte mich an, „hast aber auch ein bisschen zu wenig Busen!“ Das wusste ich schon, das musste er mir nicht sagen. „Das ist das einzige männliche Manko! Aber das wird vielleicht noch. Die Linie bei dir von der Taille zur Hüfte dagegen, wenn ich das als Vater sagen darf, die ist sexy! Das sieht man in diesem Rock nicht so gut, aber ich weiß es!“ Das wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass mein Hintern ein bisschen sehr rund war, da hatte wohl meine Mutter mit ihren Genen hineingepfuscht. Und mir fiel auf, dass er, mein Vater!, mich schon früher männlich abschätzend von hinten betrachtet haben musste. „Glaube mir, Männer mögen gern ein bisschen Rundungen an bestimmten Stellen. Die sind bestimmt ganz hin und weg, wenn sie hinter dir gehen und du hast eine enge Hose oder einen engen Rock an. Du hast eine tolle Figur. Und fast ein Madonnengesicht, betont durch deinen Mittelscheitel. Ich würde dich sofort nehmen, wenn ich nicht so nah mit dir verwandt wäre.“
„O Papa, du bist einfach unmöglich“, sagte ich, wieder mal unnötig verlegen werdend, und warf mich in seine offenen Arme. Er war schon ein überzeugender Mann. Ich war stolz auf seine Beurteilung, wenn ich auch gewisse Reserven dagegen hatte.
Als ich nach oben schaute, sah ich sein Gesicht direkt vor mir. Es bekam jetzt mit knapp fünfzig Jahren langsam härtere Linien und mehr Falten, die Schläfen wurden grau, aber das machte ihn nur noch interessanter und attraktiver. Und ich sah, dass sein Blick auf mich im Moment ganz anders war als sonst – war das noch väterlich? Vielleicht deswegen, weil ich ihn nicht gerade töchterlich ansah? Verlegen machte ich mich aus seinen Armen frei.
„Eva, mein Schatz, sei auch in der Liebe so klug, wie du sonst bist. Komm zu mir, wenn du Rat brauchst. Ich kenne die bösen Schliche der Männer, die nur unter deinen Rock schlüpfen wollen!“, sagte er. Er war nun wieder Vater, wenn auch ein sehr spezieller.
Ich weiß genau, warum du die Schliche kennst, dachte ich und antwortete: „Ich habe meistens Hosen an!“
Papa grinste und ergänzte sinnend: „Andererseits, Schatz, du musst selber deine Erfahrungen machen. Dabei wirst du auch schlechte machen. Ich wünsche dir nur, dass sie dir nicht zu tief gehen und dich verbittern, sodass du die Chancen nicht mehr erkennst!“ Mein lieber Mann, jetzt wird er am Ende noch philosophisch, mein Papa, dachte ich, warf ihm eine Kusshand zu und floh aus dem Wohnzimmer.
Später kam mir der Doppelsinn seiner Worte zu Bewusstsein: „Er würde mich nehmen ...“ war eine altmodische Formulierung für ..., na ja, ihr wisst schon. Aber ich war sicher, er wollte mir nur ein Kompliment machen.
Ich denke zu kompliziert, haben mir schon einige gesagt, vor allem Männer. Das sagen sie vor allem dann, wenn sie bei meinem Denken nicht mehr mitkommen, was oft mit ihrem eigenen (mangelnden) Denkvermögen zusammenhängt. Aber manchmal haben sie auch Recht, ich weiß es.
Hat nun mein Vater als Alleinjuror bei meinem Beauty Contest richtig gelegen? Na ja, ich bin einigermaßen zufrieden, es könnte schlimmer sein. Die Bewerber stehen zwar nicht Schlange und meine Gruppen bei WhatsApp sowie meine Fans auf Instagram und Facebook sind überschaubar, aber ich muss schon einigermaßen zufrieden sein. Vielleicht habe ich einen zu intellektuellen Touch. Ich kann und will halt nicht unterdrücken, dass ich einigermaßen intelligent bin und bei den besten Abiturienten meiner Schule. Soll ich vielleicht das Dummerchen spielen, damit die Bübchen sich überlegen fühlen können? Nein! Ärgern tue ich mich natürlich, wenn in der Diskothek oder bei Partys die attraktivsten Kerle an mir vorbei gehen, entweder schon gebunden sind oder sich gebunden fühlen. Oder sie gehen lieber zu den aufgestyltesten Girlies, die den tiefsten und den gefülltesten Ausschnitt haben und den Männern dann einblasen, wie toll sie sind. Habt ihr die feine Anspielung bemerkt, die ich gerade gemacht habe?
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