Ja, dieser Opa ist plötzlich gestorben. Er war Mitte Siebzig. Natürlich war er ein alter Mann. Aber er ist mir nie ganz alt vorgekommen. Er war sportlich, war viel zu Fuß unterwegs und hat mit mir gut Schritt gehalten, wenn wir zusammen unterwegs waren. Die groben Arbeiten im Garten der Großeltern hat er ohne Hilfe bis zuletzt erledigt. Und das wurde ihm zum Verhängnis! Als er wie jedes Jahr Triebe an ihrem großen Kirschbaum herunterschneiden wollte, ist er wohl abgerutscht und aus vier Meter Höhe hinuntergefallen. Das wäre noch nicht tödlich gewesen, aber er ist mit dem Kopf auf die Trockenmauer gefallen, die er selbst als Abgrenzung zum Rasen gebaut hat - Sandstein auf Sandstein. Das hält selbst der härteste Schädel nicht aus. Ergebnis: Schädelbasisbruch oder so ähnlich! Oma Katja hat ihn gefunden. Er wurde mit Tatütata ins Krankenhaus gefahren und da ist er gestorben.
Oma Katja war danach lange nicht ansprechbar. Heute noch kriegt sie feuchte Augen, wenn nur sein Name fällt.
Ja, das war sehr schlimm. Wir waren alle sehr traurig und sind es noch, wenn wir daran denken. Das war das erste, das richtige Unglück im wahrsten Sinne des Wortes, gefühlsmäßig echt ein Super-GAU für mich.
Das nächste, wirklich als richtige Scheiße zu bezeichnen, ist der Ärger mit meinen Eltern. Ich meine den Ärger, den sie sich beide gegenseitig machen. Und der dazu führen kann, dass sie sich scheiden lassen. Sie haben schon davon gesprochen. Ich habe es gehört. Später habe ich mit meinem kleinen Bruder darüber geredet, reden müssen. Nein, nicht von Scheidung, ich bin ja nicht ganz blöd, den kleinen Mann damit zu belasten, aber von den Problemen, die Mama und Papa miteinander haben. Tim, so heißt mein Bruder, hat mich angesprochen, weil er natürlich auch gemerkt hat, dass dicke Luft zwischen den beiden ist. Lassen sie sich jetzt auch scheiden, hat er gefragt und angefangen zu weinen. Er wollte es nicht, aber die Tränen sind aus ihm herausgequollen. Bei Klassenkameraden hat er mitbekommen, dass die Kinder bei einer solchen Trennung hin und her gezerrt sind und schwer leiden. Ich habe ihm gesagt, so weit kommt es bestimmt nicht. Überzeugend war das für ihn sicher nicht. Dummerweise bin ich nämlich selbst in Tränen ausgebrochen, weil ich zurzeit ziemlich labil bin. Tim ist nun ziemlich verstört, er ist erst zehn Jahre alt. Heute Nacht hat er ins Bett gemacht!
Ich habe beim Frühstück mitgekriegt, dass dieses nasse Bett ein Thema zwischen den Eltern war. Tim war schon in der Schule, ich saß am Esstisch im Wohnzimmer, die beiden waren in der Küche. Auch wenn die Schiebetür geschlossen ist, kann man fast alles hören, was gesprochen wird. Sie haben sich immerhin nicht angeschrien, sondern sich nur in gereiztem Ton unterhalten. Sie sagte: „Das hast du nun davon, das Kind leidet!“ Und er antwortete: „An mir liegt es nicht!“ Dann stellte sie in grimmigem Ton fest: „An wem dann? Wir haben hier Monogamie. Man kann nicht zwei Frauen auf einmal haben. Und das nicht zum ersten Mal!“ Ich hörte es mit Erstaunen, dass er schon früher ... Das hatte ich nicht gewusst. Papa wehrte ab: „Die Sache ist vorbei, es war nichts Ernstes.“ Und sie meint: „Es ist nie was Ernstes! Wer’s glaubt, sie arbeitet immer noch bei euch.“ Also, stelle ich fest, war Papa mit einer Frau aus seiner Firma mal kurz (oder vielleicht länger?) im Bett. Und das nicht zum ersten Mal! Das gefällt Mama natürlich nicht, was ich verstehen kann.
Papa ist Kaufmann, er kauft und verkauft die Chemikalien in alle Welt, die seine Megafabrik hier am Ort herstellt. Was er macht, nennt sich in seiner Firma „Senior Sales Manager“. „Nahe beim Kunden“ müsste er sein, sagt er, also „customized“, wie er immer grinsend falsch übersetzt. Die Firma ist stolz darauf, Global Player zu sein. Also ist er ist dauernd unterwegs, früher in der ganzen Welt. Seit Tim da ist, reist er nur noch in Nordeuropa herum. Er spricht davon, dass er das mit seinem Chef vereinbart hat, weil er doch seine Kinder aufwachsen sehen will. Das ist ihm aber erst eingefallen, als sein Sohn da war. Für die Tochter war das offensichtlich nicht notwendig. Das nennt man Frauendiskriminierung! Aber egal, immerhin ist er öfter daheim.
Ich weiß auch, dass Tim seine Existenz dem besonderen Wunsch meines Vaters verdankt. Mama wäre mit einem Kind, also mit mir, zufrieden gewesen. Ich muss es ja sowieso allein erziehen, hatte sie zu ihm gesagt, du bist ja nie da. Aber Papa wollte unbedingt noch ein Kind haben. Er hatte wohl die Hoffnung auf den berühmten Stammhalter altdeutschen Stils . Mama hat ihm abgerungen, dass er dafür seine Dienstreisen einschränken muss. Ja, und dann hat er Glück gehabt: Ein Sohn, der so sehr begehrte Stammhalter für die berühmt-berüchtigte Familie von und zu Hollbach , kam auf die Welt, auf dass der Name für alle Zeiten erhalten bleibe. So ein ..., nein, ich wiederhole das Wort nicht! Oder anders: Merde! Französisch kann ich auch.
Ja, wenn man aufmerksam ist, hört man viel. Auch einiges, was man gar nicht hören will. Ich gebe zu, dass man zu Recht sagt, ich sei wahnsinnig neugierig! So wie Opa früher.
Was ich früher nicht gecheckt hatte: Papa ist ein Womanizer, ein Frauenheld, ein Casanova. In seinem Dienstdress, blauer Businessanzug, manchmal mit Weste, sieht er richtig gut aus, wenn man auf Old School steht.. Er ist dunkelblond, ziemlich groß, noch ziemlich schlank und ziemlich charmant. Als Kind habe ich ihn angehimmelt. Es fällt mir heute noch schwer, ihm böse zu sein.
Mir ist leider absolut nichts bekannt, was er früher so getrieben hat, als er noch jung und ledig war. Ich meine damit unverheiratet. Ohne Frau, schätze ich, war er sicher nie ganz, so wie sie ihm heute noch nachlaufen. Selbst ein paar Mitschülerinnen, die ihn gesehen haben, waren schwer beeindruckt von ihm. Und nach dem, was ich gerade gehört habe, stoßen ihn auch andere Frauen nicht von der Bettkante. Aber er sollte das nicht machen! Er tut Mama weh. Sie nimmt auch alles so ernst. Aber sie hat halt die Veranlagung, sie kann nichts dafür. Habe ich die Veranlagung auch? Ich weiß es noch nicht genau, aber ich befürchte, ja.
Mama! Was ist denn zu ihr zu sagen? Mama ist eher mittelgroß, ich bin schon größer als sie (hoffentlich wachse ich nicht mehr!). Seit der Geburt von Tim wird sie immer „fraulicher“, wie sie sagt. Das heißt, sie wird um die Brust und die Hüfte immer runder. Beim Essen nimmt sie sich sehr in Acht, sonst würde sie wie ein Hefeteig auseinandergehen. Wohlwollend kann man sie als vollschlank bezeichnen. Sie hat aber ein apartes Gesicht und ist immer noch eine ganz hübsche Frau. Ich weiß auch nicht genau, ob Mama und Papa noch miteinander Sex haben. Auf jeden Fall zurzeit sicher nicht, da ist Funkstille.
Vor ein paar Jahren habe ich die beiden mal erwischt, als ich früh von einer lahmen Party heimkam und sie es im Wohnzimmer miteinander trieben. Dieses Stöhnen der beiden, mein lieber Mann, tierisch! Ich habe es schon in der Diele gehört, musste aber in meiner Unschuld erst mal begreifen, was da vor sich ging. Ich habe zuerst stocksteif dagestanden: Was sind das für Laute? Und als ich es verstanden habe, bin ich schnurstracks in mein Zimmer gerannt. Ihr Gedanke war wohl: Der kleine Tim schläft früh, die große Tochter ist bis spät außer Haus. Also machen wir es zur Abwechslung auf dem Sofa! Es war so was von peinlich! Törnt sie das an, wenn sie es im Wohnzimmer machen? Können die das nicht nachts in ihrem Schlafzimmer tun wie normale Eltern, wenn ich selig schlafe? Mama kam dann irgendwann hinterher in mein Zimmer. Sie hat aber nur gefragt, wie mein Abend war, und ich habe es ihr erzählt. Wie ihr Abend war, habe ich nicht gefragt. Den eigentlichen Knackpunkt haben wir also beide vermieden anzusprechen.
Читать дальше