Die letzten Worte hört Peter schon nicht mehr. Er ist zur Haustür heraus. Toni schüttelt lachend den Kopf. Auf einmal fällt ihm wieder ein, wie er damals als Dorfpolizist seiner verstorbenen Frau auch einmal die Umstände eines Wohnungseinbruchs erklären musste.
Kapitel 5 - Oberstdorf, Klinik 24.04. 19:30
Der schwarze Volvo V40 Cross Country mit dem EISBÄREN-Oberstdorf-Aufkleber rast ungeblitzt durch die Tempo-30-Zone und parkt direkt vor der Klinik in der Trettachstraße. Genau gegenüber des MONTANA HAUSES.
Peter Endras kommt zu spät. Er sprintet, ohne seinen Pkw abzuschließen, die zwölf Stufen zum Eingang der Klinik hinauf.
Dr. Bettina Ziebach verabschiedet sich soeben von der Dame an der Rezeption. Sie trägt noch immer ihr rotes Cocktail-Kleid von Marios Schwab und den schwarzen Meteo-Pelzmantel von Yves Salomon.
„Oh, Entschuldigung, Herr Polizeihauptmeister, ich hatte Sie schon etwas früher erwartet.“
„Ich muss mich entschuldigen, Frau Doktor, aber ich wurde noch von meinem Vater aufgehalten.“
Die Ärztin schaut unauffällig auf ihre Armbanduhr. „Nun sind wir ja doch noch zusammen gekommen. Wollen wir in meine Praxis gehen?“
„Wie Sie wünschen. Wir können aber auch gleich hier in der Cafeteria bleiben.“
„Vielleicht haben Sie Recht. Nach dem anstrengenden Tag kann ein Kaffee nicht schaden.“
Endras lüftet seine Polizeimütze und legt sie achtlos auf die Garderobe. Dann hilft er der Notärztin aus ihrem Mantel. Die beiden setzen sich an einen Tisch ans Fenster. Außer ihnen befindet sich nur noch die Angestellte der Cafeteria im Raum, die sich auch schon auf den Feierabend vorbereitet. Zwei Kaffee kann sie aber schnell noch servieren.
Der „Dorfsheriff“ beginnt zögerlich: „Frau Dr. Ziebach, Sie haben mir ja gestern von ihren Befürchtungen berichtet. Sie wissen, dass ich mit meinem Kollegen Zwanziger ihre Wohnung überwacht habe. Ich weiß allerdings nicht, ob Sie über die Ereignisse genau informiert sind. Oder haben Sie noch Fragen?“
„Ich habe schon mitbekommen, dass hier hinter meinem Rücken getuschelt wurde. Sie habe tatsächlich diesen Herbert Vasiljevs erwischt?“
„Und zwar auf frischer Tat, und so, dass kein Zweifel besteht, dass er auch für die letzten Mordtaten in Lindau und hier in Oberstdorf verantwortlich war.“
Unmerklich bilden sich Tränen in Ziebachs Augen, die langsam ihre Wangen herunterlaufen.
Endras spürt, wie sehr die Gewissheit, dass die hier in Oberstdorf allein lebende Ärztin von ihrem Freund tatsächlich bis ins Innerste verletzt worden ist und gleich mental zusammenbrechen wird. Die ganze Selbstsicherheit verpufft in diesem winzigen Augenblick. Die Ärztin kauert sich merklich zusammen. Peter kommt der Dokumentarfilm in den Sinn, in dem er ein ängstliches Rehkitz gesehen hatte
„So leid es mir tut, Frau Doktor. Ihr Freund hat mit voller Absicht und großer Akribie versucht, alle Verdachtsmomente auf Sie zu lenken. Sogar noch, nachdem wir ihn zur Rede gestellt haben.“
Zu dieser Erkenntnis ist sie natürlich nun längst selber gekommen. Aber die von Endras ausgesprochenen Worte verletzen sie dennoch um ein Vielfaches und sie beginnt hemmungslos zu weinen.
Peter Endras fühlt sich augenblicklich verantwortlich für den Gemütszustand der Ärztin. Er greift nach ihrer rechten Hand und beginnt diese zu streicheln. Und da er nicht weiß, wie er sich verhalten soll, erzählt er einfach weiter:
„Wir hatten es uns also gerade in Ihrer Wohnung gemütlich gemacht, da parkte ein Auto gegenüber. Ein Mann schloss ihre Wohnung auf und betrat das Schlafzimmer. Wir hatten das Bett so drapiert, dass man denken konnte, Sie schlafen tief und fest darin. Der Mann zog plötzlich ein langes Messer aus seiner Anzugtasche und stach einmal kräftig auf Sie ein. Da haben wir ihn überwältigt und festgenommen. Es war in der Tat ihr Freund, der Wirt der Fiskina in Fischen, Herbert Vasiljevs. Er ließ sich sofort widerstandslos festnehmen.“
Bettina Ziebach hört der Schilderung des Polizisten regungslos zu. Obwohl sie eigentlich keine Einzelheiten der Tat erfahren will, ist sie doch froh, dass jemand ihr jetzt und hier zur Seite steht und sich um sie kümmert.
„Und was ist jetzt mit ihm?“, fragt die Ärztin unvermittelt in die Stille hinein, die Endras lässt, weil er nicht weiß, wie er ihr den Tod erklären soll..
„Er hat sich selber gerichtet. Wir haben ihn nach Kempten zum Verhör gebracht. Und als er einsah, dass ein weiteres Leugnen zwecklos war, hat er versucht zu fliehen und ist aus dem Fenster im 2. Stock gesprungen. Er war sofort tot.“
Bettina Ziebach presst die Lippen aufeinander. Man erkennt, dass sie im Moment mit einem weiteren Lebensabschnitt abgeschlossen hat. Nach ihrer gescheiterten Ehe in Hamburg nun also die befürchtete Enttäuschung mit Vasiljevs, der doch eigentlich nur ein Gigolo war, und ihr für ihren Körper die Einrichtung einer eigenen Arztpraxis versprochen hatte.
Peter Endras schaut die Ärztin mitleidvoll an. Plötzlich übermannt ihn sein Gefühl. Er nimmt Bettina Ziebach zärtlich in den Arm und küsst sie auf die Wange. Sie weint nun hemmungslos. Mit lautem Schluchzen sucht ihr Mund den Mund des „Dorfsheriffs“.
„Ist bei Ihnen noch alles in Ordnung?“, fragt die Bedienung.
Kapitel 6 - Friedrichshafen Flughafen 24.04. 20:00
Dr. Werner Brandenburg sitzt am Fenstertisch des LSC-Restaurants am Flughafen in Friedrichshafen und schaut verträumt in den Abendhimmel. Die rote Sonne versinkt gleich neben der hohen Halle des „Fairfit-Fitnesscenters“ hinter der Silhouette der Bodenseestadt. Brandenburg kaut genüsslich seine Gobbetti alla Caprese und versucht dabei, ein Basilikumblatt genau auf die letzte Hörnchennudel zu platzieren.
Nachdem er am Nachmittag erfahren hat, dass auch sein letzter Aspirant auf die Bewirtungskonzession im neuen „Europark“ im Oytal bei Oberstdorf die Stelle nicht antreten können wird, – Herbert Vasiljevs, der Wirt der Fiskina in Fischen, war bei einem Fluchtversuch vor der Kemptener Kriminalpolizei tödlich verunglückt – hat der Notar sofort den neuen Mitgesellschafter „Didi“ Matheschlitz angerufen, der ihn aber sogleich beruhigen konnte:
„Lieber Dr. Brandenburg, nun mal schön die Ruhe behalten. Die Grundsteinlegung zum „Europark“ ist doch erst in neun Tagen. Bis heute Abend lege ich Ihnen einen fertigen Vertrag vor.“
Brandenburg war durch diese Einlassung des „Red Bull“-Besitzers ein riesengroßer Stein vom Herzen gefallen. Er hatte seine Sekretärin sogleich angewiesen, alle weiteren Termine in der Kanzlei abzusagen und ist mit der Bodensee-Oberschwaben-Bahn BOB 87594 zum Treffpunkt zum Flughafen Friedrichstadt herausgefahren. Hier erwartet er nun total entspannt das Eintreffen des österreichischen Mäzens. Um sich die Wartezeit zu verkürzen, hat sich der Notar sein Lieblingsgericht bestellt, da ihm sein Magenknurren peinlich war. Er glaubte, dass die anwesenden Gäste schon irritiert zu ihm herüber schauen würden.
Endlich vernimmt Brandenburg das ferne Knattern eines Hubschraubers. Nach einigen Sekunden und dem Anschwellen des Dezibel-Pegels schwebt der lila farbene Privat-Helikopter mit dem roten Bullen auf gelbem Grund, die umgebaute BO105 C, von Didi Matheschlitz selbst geflogen, über dem Speziallandeplatz. Der österreichische Unternehmer und Energy-Drink-Hersteller setzt gekonnt auf der markierten Fläche vor der Flugschule LSC auf, stellt den Rotor ab und springt erstaunlich dynamisch mit seinen siebzig Jahren aus dem Cockpit. Der Milliardär trägt eine hellbraune Lederjacke, eine hellblaue Jeans und braune Cowboystiefel mit Silbernieten. Er greift sich seinen schwarzen Aktenkoffer und läuft zur kleinen Pizzeria im Nebengebäude.
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