»Wie geschmacklos von dir, das Thema heute anzusprechen. Die Nachfolge unter unseren Kindern ist dein größtes Problem, noch bevor Marcel unter der Erde ist?«, entgegnete sie unwirsch.
»Den Kommentar kannst du dir sparen. Das muss schnellstens geklärt werden, ob es dir passt oder nicht. Es sind große Gelder im Umlauf. Marcel hat …«
Hinter lächelnden Masken, und ausschließlich durch ihre Augen, verschossen die Frauen blitzschnell unsichtbare Pfeile, getränkt mit dem Gift des Neids bei Chantal und mit Unverständnis bei Elaine. Ein nonverbales Beben, nur eine winzige Sekunde lang. Elaine hielt dem abschätzenden Blick der Schwägerin problemlos stand, bis diese ihre Augenlider senkte. Erst dann trat sie forsch einen Schritt auf sie zu, ihre Gesichter trennten bloß wenige Zentimeter.
»Jetzt hör gut zu, Chantal. Ich entscheide über meinen Nachfolger sowie den Zeitpunkt der Ernennung. Du kannst sicher sein, ich bin mir der Verantwortung bewusst. Aber jetzt fahre ich zu Alessandro.« Dann äffte Elaine ihre Schwägerin nach: »Ob es dir passt oder nicht«, und lief festen Schrittes zu ihrem Wagen, wo ihr Chauffeur bereits die Tür offen hielt.
5
Chaos
Donnerstag, 13. Februar 2014
Wegen der tragischen Geschehnisse in ihrer Familie hatte Elaine das Treffen im Vatikan mit Kardinal Bretone mehrmals verschoben. Aus ihrer Sicht eilte es nicht, denn die Geschäfte waren seit Jahrzehnten geregelt. Dem Kardinal allerdings blieb nur noch eine Frist von gut drei Monaten bis zum Datum der Rückzahlung, weshalb er keine andere Wahl hatte, als heute gleich zwei elementare Punkte anzusprechen – die Nachfolgeregelung und die Finanzen.
»Ich rechne nicht damit, dass der Papst mich erneut als Kardinal bestätigt, und ähnlich steht es um den Chef der Vatikanbank. Wir sind die letzten der alten Garde, und abgesehen von personellen Veränderungen, die jeder neue Papst durchsetzt, werden wir nicht jünger. Madame Volante, Sie sollten Ihren Nachfolger bestimmen, damit wir umgehend Vorkehrungen für die Zukunft treffen können«, mahnte er höflich. Dann lehnte sich Kardinal Bretone in dem modernen Sessel zurück, faltete die Hände vor der Brust und schaute Elaine aufmerksam an. Er registrierte ihr Nicken, aber auch den besorgten Ausdruck, der sich über ihr Gesicht legte. Sie sah müde aus und schien seit ihrem letzten Besuch im Sommer um Jahre gealtert. Kein Wunder, nach allem, was sie in den letzten Wochen durchstehen musste.
»Macht Alessandros Genesung Fortschritte?«, fragte er einfühlsam. »Ich gehe davon aus, dass er Ihr Nachfolger werden soll?«
»Sein Arzt meint, es besteht die Chance einer vollständigen Heilung, was mich hoffen lässt«, antwortete Elaine. »Vor zwei Wochen wurde er von der Intensivstation in die Rehabilitationsabteilung verlegt. Mein Sohn beginnt flüssiger zu sprechen, wir können uns wieder unterhalten. Leider kann er seine Bewegungen nur schlecht koordinieren, deswegen muss er noch rund um die Uhr betreut werden, und ich besuche ihn täglich im Krankenhaus.«
»Das sind doch trotzdem positive Nachrichten. Ich werde Alessandro heute Abend in mein Gebet einschließen. Sie sind eine starke, bewundernswerte Frau, Elaine.«
»Was bleibt mir anderes übrig?«
»Nehmen Sie doch bitte das Kompliment an.«
Endlich lächelte Elaine und Kardinal Bretone schob erleichtert einen Stapel Dokumente über den Tisch, die sie konzentriert durcharbeiteten. Erst danach fragte er, ob sie den Tod des Bruders inzwischen etwas verarbeiten konnte, und tastete sich vor, wie es um die Familie stand.
»Ich wusste natürlich von seinem Krebs. Marcel hoffte bis zuletzt und auch wir glaubten, dass er die Krankheit im Griff hatte. Sein plötzlicher Tod hat uns alle überrascht. Aber kommt er jemals zur rechten Zeit?« Elaine schaute den Kardinal traurig an. Ohne seine Antwort abzuwarten, erzählte sie, dass Marcel vor einem Monat zusammen mit seinen Geschäftspartnern den Zuschlag für das Mega-Projekt Port Hercule erhalten hatte.
Kardinal Bretone erklärte, dass er die Entscheidung des Fürsten für klug hielt, das prestigeträchtigste Bauprojekt des nächsten Jahrzehnts in Monaco an dieses Konsortium zu übertragen. »Damit bindet er den einflussreichen französischen Nachbarn über den Bogo-Konzern, die Italiener über die Michelottis und die mächtigste Familie Monacos ein.«
»Ganz so einfach ist das nicht«, erwiderte Elaine und ließ sich über die Schwierigkeiten dieser Kooperation nach dem Tod des Bruders aus. Der Kardinal spürte, wie seine Konzentration schwand. Es fiel ihm schwer, ihr zuzuhören, ohne seine eigene Thematik aus den Augen zu verlieren. Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, schlug er geschickt den Bogen zu Elaines letzter Frage.
»Obwohl wir wissen, dass der Tod Teil des Lebens ist, verdrängt unsere Kultur die Endlichkeit. Und jeder Abschied fällt schwer.«
»Danke für die ehrlichen Worte«, wiegelte Elaine den ihr unangenehmen Punkt ab. »Wir wollten heute ja die Finanzen besprechen. Das Datum der Rückzahlung kommt näher.« Sie nahm ihre Lesebrille aus dem Etui und schob sie auf die Nase. Die letzte Bilanz – abgelegt unter Vatikan 2013 in den vorbereiteten Dokumenten – lag obenauf. »Nach meinen Kalkulationen sollten 52 Millionen Dollar mehr auf meinem Konto sein, als ich zahlen muss. Die Restsumme …«
Jetzt, da sie den Sachverhalt angesprochen hatte, konnte der Kardinal nicht mehr ausweichen. »Die Kalkulation stimmt so nicht«, unterbrach er sie kaum vernehmbar.
»Was stimmt nicht?« Sie schaute mit hochgezogenen Brauen von den Unterlagen auf.
Zögerlich gestand Kardinal Bretone, dass es Unregelmäßigkeiten bei den Geldanlagen gegeben hatte.
»Wir haben sichere Investments getätigt, nur marginal mit Aktien spekuliert. Was gab es da zu managen? Ich frage mich, wieso über Jahrzehnte nicht mehr Gewinn erwirtschaftet worden ist.«
Als hätte Elaine erst durch das folgende Schweigen die ursprüngliche Antwort des Kardinals begriffen, fragte sie nach: »Was genau meinen Sie mit ›Unregelmäßigkeiten‹?«
»Es sind nur 1,3 Milliarden Dollar auf dem Konto.« Endlich hatte es Kardinal Bretone hinter sich gebracht und den verhängnisvollen Satz ausgesprochen.
»1,3 Milliarden? Statt 4,3 Milliarden?«, wiederholte sie mechanisch.
Er starrte schweigend an ihr vorbei. Irritiert drehte sich Elaine um und entdeckte ein Gemälde, das ihr nie zuvor aufgefallen war. Es zeigte den Kopf von Jesus und seinen Oberkörper, hinter ihm ein überdimensionales Kreuz. Das Gemälde umrandete ein weißes Passepartout, das in einem einfachen Goldrahmen gefasst war.
»Jesu leidender Gesichtsausdruck passt genau«, kommentierte sie bitter. »Ich habe kontinuierlich die vereinbarten Prozente überwiesen und Sie haben bestätigt, die Gelder wie besprochen angelegt zu haben.«
»Das betraf nur die letzten zehn Jahre. Davor liefen die Geldanlagen chaotisch. Bedauerlicherweise.«
»Sie können mir doch nicht einfach diese Zahlen an den Kopf werfen? 1,3 statt 4,3 Milliarden? Haben Sie mir jahrelang fingierte Abrechnungen vorgelegt? Mich belogen? Und versuchen sich jetzt mit einer ›chaotischen Vergangenheit‹ herauszureden?«
Elaine merkte dem Kardinal an, wie unwohl er sich fühlte, trotzdem folgte sie erneut seinem Blick und sagte enttäuscht: »Erhoffen Sie sich höheren Beistand von Gott, indem Sie das heiligste Symbol der Christenheit unentwegt anstarren?«
Kardinal Bretone fühlte sich ertappt und senkte devot die Augen.
Unbewusst suchte Elaines rechte Hand das goldene Kreuz, das sie seit ihrer Jugend an einer feinen Kette um den Hals trug. Sie drehte es zwischen den Fingern hin und her. »Ich habe in den letzten Wochen über unsere Familie nachgedacht. Die Geheimniskrämerei funktionierte für unsere Generation, wir waren nur drei Kinder. In der nachfolgenden haben wir elf direkte Erben. Die Machtkämpfe unter den Kindern haben begonnen. Niemand ahnt, welcher Preis für den Erfolg zu zahlen ist.«
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