Alessandro schaute seiner Mutter ins Gesicht. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Elaine nickte und bemerkte schnell: »Du siehst abgekämpft aus.«
»Mich plagen Kopfschmerzen, wahrscheinlich mein verspannter Nacken.« Alessandro massierte ihn mit einer Hand. »Mittwoch habe ich einen Termin beim Chiropraktiker.«
Besorgt fragte sich Elaine, ob er Stress in der Firma oder wieder Streit mit seiner Frau hatte.
Unterdessen legte Alessandro galant den Arm um ihre Schulter und küsste sie auf die Wange. »Hast dich super gehalten, Mama. Nochmals alles Liebe zum Geburtstag.«
Sein lieb gemeintes Kompliment versetzte Elaine trotzdem einen Stich. »Danke. Sag mal, treibst du keinen Sport mehr?«, überspielte sie die Situation nach einem Blick auf das Hemd ihres Sohnes, das er neuerdings über der Hose trug, um den Bauchansatz zu kaschieren und mahnte, dass er nach den beiden Infarkten auf sich aufpassen solle.
»Das mache ich doch, keine Sorge.«
Wie bei den meisten Menschen, verlief auch bei Elaine die Kurve zwischen Alter und Interesse an Geburtstagsfeiern entgegengesetzt, der Schnittpunkt beider lag Jahrzehnte zurück. In diesem Jahr war sie über ihren Schatten gesprungen. Seit der Arzt die niederschmetternde Diagnose bestätigt und ihr zudem gesagt hatte, dass der Tumor inoperabel war, sah sie Feiertage in einem anderen Licht. Jetzt träumte sie davon, die Achtzig zu erreichen. Bisher hatte sie nur konsequent ihre Ernährung umgestellt, und im Moment fühlte Elaine sich gut, verspürte keine Schmerzen. Es half ihr, die Krankheit zu verdrängen. Trotzdem gab sie dem sentimentalen Anflug nach, dass es ihr letzter Geburtstag sein könnte. Deswegen hatte sie ihre Kinder Claudia und Alessandro mit ihren Familien und ihre vier engsten Freunde zu einer gemütlichen Feier nach Hause eingeladen.
Es fügte sich perfekt, dass der Geburtstag auf einen Samstag fiel. Ihre engste Freundin Béatrice du Marignac, die sie bereits als ihre eigentliche ›bessere Hälfte‹ bezeichnet hatte, als sie noch einen Ehering trug, war schon gestern aus Rom gekommen und würde übers Wochenende bleiben. Isabella Corsini, ihre andere Freundin, kannte sie seit über sechzig Jahren aus der gemeinsamen Schulzeit. Die Juristin unterhielt ein Büro für Personenauskünfte in Monaco und überprüfte alle potenziellen Mieter für sie.
Vervollständigt wurde die Runde von zwei Männern, die über ihre Arbeit zu Freunden und wichtigen Vertrauten für Elaine geworden waren. Jacques Verrier vertrat seit vier Jahrzehnten als Anwalt ihre Interessen und Paolo Bernasconti war seit über dreißig Jahren ihr Hausarzt.
Elaine hatte vorab scherzhaft mit einer Strafe gedroht, sollte ihr jemand etwas schenken wollen. Siebenundsiebzig zu werden, sei bereits Geschenk genug. Da jedoch weder die Kinder noch die Freunde mit leeren Händen kommen wollten, glich ihr Wohnzimmer einem Blumengeschäft. Die Mischung von Freunden und Familie aus drei Generationen funktionierte. Man witzelte über den letzten Monaco-Klatsch, hörte den Geschichten der Enkel zu, die man angeregt kommentierte, und trank Champagner. Elaine genoss es wie lange nicht, ihre Lieben um sich zu haben.
Vor dem Abendessen klopfte Béatrice mit dem Silberlöffel an ihr Glas, und gab danach lustige Anekdoten ihrer Freundschaft mit Elaine zum Besten. Dafür hatte sie sogar alte Fotos mitgebracht. Die Jüngsten lachten Tränen über die Outfits und Frisuren.
Nach dem Essen unterhielten sich Alessandro und Jacques Verrier auf der Terrasse über die neuesten Automodelle, Trends und die zeitlose Eleganz von Oldtimern. Plötzlich versteifte sich Alessandros Körper, seine Gesichtszüge verschoben sich und er lallte Unverständliches. Sekunden später zersplitterte sein Glas auf dem Boden. Der Rotwein spritzte über die hellen Fliesen.
Geistesgegenwärtig umfasste Jacques den viel kräftigeren Mann, hievte ihn in einen breiten Korbsessel und rief laut: »Paolo, schnell! Mit Alessandro stimmt was nicht!«
Schlagartig verstummten die Gespräche.
Paolo Bernasconti, ein erfahrener Allgemeinmediziner, beugte sich über Alessandro, hob seine Augenlider an und fragt ihn, ob seine Arme bewegen könne.
»Nur lin…«, lallte er.
»Fühlt sich der rechte Arm gelähmt an?«
»Hm.«
»Das Gesicht?«
»Ja«, murmelte er gequält.
Paolo tippte bereits die Nummer des Notdienstes ins Handy. »Dr. Bernasconti, ich habe einen Patienten mit Verdacht auf Schlaganfall. Er hat eine Vorgeschichte mit Herzinfarkten und benötigt einen Transport ins Krankenhaus nach Nizza. Sofort bitte!« Dann suchten seine Augen Elaine. »Wir brauchen Kissen. Holst du welche?«
»Stirbt mein Papa?«, fragte Luca und sprach damit aus, was sich die anderen nicht zu denken trauten. Als er laut zu weinen begann, nahm ihn seine Mutter, selbst kalkweiß im Gesicht, auf den Arm.
Elaine versuchte ihren Schock durch Aktivität zu überspielen, hastete zurück ins Wohnzimmer und reichte schließlich Paolo einige Kissen, die er hinter Alessandros Rücken schob.
»Seine linke Pupille ist stark erweitert. Ich werde zur Sicherheit ins Krankenhaus mitfahren, damit er gleich richtig behandelt wird.« Paolo sah erst jetzt, wie Elaines Hände zitterten. »Kein Grund, die Nerven zu verlieren«, versuchte er sie zu beruhigen.
Inzwischen hatte er die Knöpfe von Alessandros Hemd sowie den Gürtel der Hose geöffnet und seine Beine auf einen Stuhl gelegt. »Ärztliche Hilfe ist unterwegs. Alles wird gut.«
Besorgt zog er Jacques Verrier zur Seite. »Rede mit Alessandro, erzähl ihm irgendetwas. Wir müssen ihn bei Bewusstsein halten«, flüsterte er. »Ich werde drinnen mit dem Krankenhaus telefonieren. Ich fürchte, sie müssen das Katheter-Labor vorbereiten. Jede Minute zählt. Ich will vermeiden, dass Alessandro mithört und Panik schiebt.«
Elaine erlebte den Rest ihres Geburtstags wie in Trance. Nachdem der Krankenwagen abgefahren war, hatte Béatrice resolut alle Gäste nach Hause geschickt und kümmerte sich um die Freundin, die apathisch auf dem Sofa lag.
Erst kurz vor Mitternacht, als Paolo Bernasconti vom Krankenhaus zurückkam und berichtete, dass Alessandro einen ischämischen Schlaganfall erlitten habe, die Durchblutungsstörung aber relativ harmlos gewesen sei, murmelte Elaine erleichtert: »Gott sei Dank.«
»Der Schlaganfall und Alessandros vorherige Herzinfarkte sind, umgangssprachlich ausgedrückt, Verwandte. Diesmal war ein Gefäß im Gehirn anstatt im Herz verstopft. Deswegen sind im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig einige Fähigkeiten seines Gehirns ausgefallen.« Die bildliche Schilderung des Hausarztes war gut gemeint, hallte aber wie eine Bedrohung durch das Wohnzimmer.
»Alessandro muss endlich seine Lebensweise umstellen. So geht das nicht weiter«, unterbrach ihn Elaine. Ihre Stimme vibrierte.
Béatrice legte fürsorglich den Arm um die Freundin. »Jetzt sei doch erst einmal froh, dass Alessandro den Eingriff gut überstanden hat.«
Elaine nickte und seufzte gleichzeitig. »Er hat wirklich Glück gehabt.«
»Wie man’s nimmt.«
Hellhörig griff sie nach Paolos Arm. »Was weiß ich noch nicht?«
»Der Neuroradiologe versicherte mir, dass die Sauerstoffversorgung von Alessandros Gehirnzellen nur kurz unterbrochen war.«
»Und weiter?« Auf einmal war Elaine schrecklich aufgeregt.
»Dass er die Thrombektomie innerhalb von 90 Minuten durchgeführt, das Blutgerinnsel mit dem Mikrokatheter entfernt und den Blutfluss wieder hergestellt hat.« Paolo, dem Elaines Anspannung nicht entgangen war, strich sich einige Male die Haare aus der Stirn und suchte nach entschärfenden Worten. Er fand sie nicht und schaute auf den Boden, als er leise gestand, Alessandro würde schlimmstenfalls geringe bleibende Schäden zurückbehalten.
»Wovon redest du?«, fragte Elaine erschrocken.
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