»Jawohl, Genosse Minister.«
Als Gärtner aufstehen wollte, drückte der Minister ihn zurück auf den Stuhl. »Sofort. Hier. Diese Akte darf den Raum nicht verlassen. Reden Sie mit niemandem, außer meiner Sekretärin – und auch mit ihr niemals über den Inhalt der Akte. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt. Sie bekommen alles, was Sie brauchen, von Frau Blume. Sie werden hier essen und schlafen, falls nötig. Es gibt neben meinem Dienstzimmer einige private Räume, die Ihnen zur Verfügung stehen. »
»Vielen Dank, Genosse Minister.«
Mielke winkte unwirsch ab. »Das ist keine Gratifikation, Gärtner, es dient lediglich dazu, Sie nicht von Ihrer Aufgabe abzuhalten. Beeilen Sie sich. Je schneller Sie fertig werden, umso besser.« Mit einer weiteren Handbewegung scheuchte er die hinzugekommene Sekretärin aus dem Raum. Bevor er das Konferenzzimmer verließ, sprach er noch einmal zu Gärtner: »Denken Sie daran, Ihre Aufgabe ist die geheimste. Ich weiß nicht einmal, wer über die Vorgänge in dieser Akte tatsächlich im Bilde ist. Es ist nicht unmöglich, dass diese Papiere sogar dem Genossen Honecker nicht gänzlich bekannt sind.« Dann steckte der Minister den Schlüssel von außen auf die Konferenztür. »Ich muss Ihnen nicht erklären, was das für Sie bedeutet«, mahnte er Gärtner, bevor er ihn einschloss.
»Mann, Keller. Ich habe schon gedacht, Sie hätten sich Ihren restlichen Urlaub genommen«, grüßte ein grauhaariger, nicht gerade schlanker Endfünfziger mit Ironie in der Stimme.
»Ich bin erst um vier aus Waldheim zurück gewesen, Chef.« Keller hatte keine Lust, sich schon am frühen Morgen mit seinem Vorgesetzten in die Haare zu bekommen.
»Und deswegen kreuzen Sie hier kommentarlos um elf auf, Oberleutnant? So geht das nicht. Eine gute Erfolgsquote rechtfertigt keine Disziplinlosigkeit, das wissen Sie doch. Also, was haben wir da in dieser Klinik in Waldheim?«
Keller rollte mit den Augen, während er seinen Mantel an den Haken hängte. Er kannte den Leiter der K zu gut, um etwas zu erwidern. Nach einer halbherzig gemurmelten Entschuldigung präsentierte er seinen knappen Bericht.
»Ein Irrer hat seinen Arzt umgebracht, kurz gesagt.«
Major Schüttau wartete auf mehr und seufzte lautstark, als Keller keine Anstalten machte, ausführlicher zu werden. »Das war nicht irgendein Arzt, Keller. Ich dachte eigentlich, dass Sie mit mehr Informationen zurückkommen. Sonst können Sie nächstes Mal ja gleich per Fernsprecher ermitteln und im Büro bleiben.« Nach einer kurzen Pause ergänzte Schüttau versöhnlicher: »Mensch, Keller, dieser Professor Heise hatte gute Beziehungen in die Partei und viele Freunde in einflussreichen Positionen. Ich möchte nicht, dass uns die ganze Sache auf die Füße fällt. Wir dürfen in diesem Fall keine Fehler machen. Aber das muss ich Ihnen doch nicht erzählen.«
Müde ließ sich Keller auf den unbequemen Besucherstuhl sinken und zog sein Notizbuch umständlich aus der Innentasche seines Jacketts. Ohne das Ding würde er die Details niemals zusammenbekommen. Schüttau schürzte die Lippen und wartete auf eine ausführlichere Schilderung. Keller fasste die Informationen zu Tatablauf und Todeszeit zusammen und beschrieb den Tatort mit einer Genauigkeit, die verriet, dass er seine Notizen vor allem für Daten, Zahlen und sperriges Fachvokabular benötigte, weniger für die visuellen Eindrücke. Das Gespräch mit dem dringend tatverdächtigen Kaltenbrunn hatte kaum hilfreiche Informationen geliefert, zu tief war der Mann in seine psychotischen Wahnvorstellungen verstrickt. Aber einen echten Zweifel an seiner Schuld konnte es kaum geben. Sofern ein derartig Verrückter wirklich schuldig sein konnte.
Erst als Keller zu seiner Unterhaltung mit Kaltenbrunns Pfleger Tassel kam, zeigte Schüttau Interesse. »Was soll das heißen? Der Mann ist Wissenschaftler? Das soll wohl ein Witz sein. Doktor Kaltenbrunn? Ist Doktor nicht eher sein Spitzname?«
»Ich weiß es nicht, Genosse Major«, erklärte Keller korrekt.
»Pah. Dann sollten Sie Ihre Hausaufgaben machen, Oberleutnant. Erstatten Sie um drei viertel vier Bericht. Und jetzt gehen Sie.«
Keller war eben dabei, seinen Mantel vom Haken zu klauben, als sein Vorgesetzter ihn noch einmal ansprach.
»Entschuldigungen Sie, Genosse Oberleutnant, ich verstehe ja, dass Sie glauben, dass dieser Fall nicht wirklich in unser Dezernat gehört. Normalerweise hätten die Kollegen vom VPKA vor Ort das auch erledigen können. Zu ermitteln gibt es da im Grunde nicht viel, nehme ich an. Sie verstehen sicher, dass Professor Heises Tod nicht wie eine Lappalie, wie ein beliebiger Unfall, abgehandelt werden soll. Also bringen Sie das sauber über die Bühne. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
Der Oberleutnant nickte und trat auf den Flur hinaus.
Irgendetwas in Schüttaus Tonfall war seltsam gewesen. Und dass sein Chef eine Mordsache so schnell als Routinefall abzutun versuchte und auf der anderen Seite nachdrücklich betonte, wie wichtig es sei, keine Fehler zu machen, passte nicht recht zu ihm.
In Kellers Kopf schellten Alarmglocken, die in der Vergangenheit stets Komplikationen angekündigt hatten, doch er war fest entschlossen, sie diesmal zu ignorieren.
»Ja, genau. Doktor Heinrich Kaltenbrunn«, knurrte Keller in den Fernsprechapparat. »Nein, ich weiß nicht, an welcher Fakultät der Mann seinen Titel erworben hat. Nein, auch nicht, wo er davor studiert hat. Hören Sie–« Er verschwendete seine Zeit, aber was sollte er machen? Irgendwo musste er anfangen, und die Zahl der Universitäten, an denen Kaltenbrunn promoviert haben konnte, war begrenzt. Wenn er denn tatsächlich einen Doktortitel in der DDR erworben hatte. Keller bedankte sich tonlos bei der Verwaltungssekretärin und knallte den Hörer auf die Gabel.
Die Patientenakte Kaltenbrunns lag vor ihm auf dem Schreibtisch, wobei die Anstaltsleitung darauf bestanden hatte, dass alle auch nur vage behandlungsbezogenen Unterlagen entfernt wurden. So blieben nur zwei graue Blätter mit den Einlieferungsdaten des Patienten, die ihm praktisch nichts verrieten. Der Titel eines Dr. rer. nat. war in das dafür vorgesehene Feld feinsäuberlich eingetragen worden, konnte aber alles Mögliche bedeuten. Der Geburtsort war mit Berlin angegeben, und Keller hatte bereits einen Anruf zur dortigen K abgesetzt, allerdings ohne große Hoffnung auf baldigen Rückruf. In der Hauptstadt hatte die Kriminalpolizei selbst genug zu tun. So war für ihn der nächste logische Schritt, die Hochschule zu identifizieren, an der Kaltenbrunn vielleicht studiert hatte. Zuerst hatte er sein Glück in Berlin versucht, aber dort waren keine Dokumente über einen Heinrich Kaltenbrunn zu finden gewesen. Ein großes Problem war, dass er nicht einmal Kaltenbrunns Geburtsjahr kannte. Ob der Mann während oder erst nach dem Krieg promoviert hatte, war damit völlig unklar. Nachdem auch Leipzig sich als Reinfall erwiesen hatte, blieben noch fünf Universitäten und eine ganze Reihe von Hochschulen. Keller nahm sein Büchlein, strich Leipzig durch und wählte dann die Nummer der TU Dresden. Dieses Ferngespräch blieb wie alle, die noch folgten, ohne jedes Ergebnis.
Wenn man davon ausging, dass die Akten seit Kriegsende unangetastet geblieben und mit typisch deutscher Gründlichkeit geführt worden waren, musste man zu dem Schluss kommen, dass ein Heinrich Kaltenbrunn an keiner Universität oder Hochschule der Deutschen Demokratischen Republik studiert oder promoviert hatte. Vielleicht waren seine Unterlagen auch einfach durch den Krieg verloren gegangen… Und was, wenn der Mann aus dem Westen kam? Oder wenn er bei den russischen Genossen studiert und promoviert hatte? Keller wischte sich über die Stirn und sank tief in seinen Sessel zurück.
Was, wenn dieser Kaltenbrunn einfach nur ein Hochstapler war? Falscher Name, falscher Lebenslauf, kein Studium, kein Doktortitel. Vielleicht war der Mörder von Professor Heise auch ein Landstreicher, der mit einer hanebüchenen Geschichte auf sich aufmerksam machen wollte und ein warmes Zuhause für den Winter gesucht hatte.
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