Sobald Kelkowitz den Wagen zum Stillstand gebracht hatte, riss Gärtner die Tür auf, griff seine Aktentasche und den schweren Wollmantel und hastete ins Gebäude. Während er den Pförtner grüßte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass der Pater Noster noch nicht wieder in Betrieb genommen worden war, und nahm die Treppe in den ersten Stock. Er rannte den Flur fast bis zum Ende hinunter, blieb vor der Tür zum Konferenzzimmer stehen, atmete einige Male tief durch, klopfte und betrat den Raum, ohne eine Aufforderung abzuwarten.
Das Wichtigste registrierte er sofort: Der Chef war noch nicht da. Dafür vier andere Personen, die er von der persönlichen Assistentin des Chefs, Frau Jessika Blume, abgesehen nur vom Sehen kannte. Alle waren sie aus den operativen Abteilungen des Ministeriums. Anscheinend war er der einzige Verwaltungsmensch hier, was seinem Wohlbefinden nicht gerade zuträglich war. Wortlos begab er sich an die gegenüberliegende Seite des Konferenztisches und wählte einen Stuhl, der möglichst viel Abstand zum Platz des Ministers versprach. Ein Blick auf seine französische Automatikuhr zeigte eine Minute nach acht. Es herrschte eine bedrückende Stille. Niemand sagte etwas, und jeder gab vor, mit seinen Unterlagen beschäftigt zu sein. Gärtner verwunderte das, denn er wusste noch nicht einmal, warum man ihn so eilig in die Normannenstraße gerufen hatte. Was sollte er da für Papiere überfliegen? So kramte er aus Verlegenheit in seiner schweinsledernen Aktentasche und holte seine großformatige Notizkladde (Gärtner hasste lose Blattsammlungen), einen sorgfältig gespitzten, weichen Bleistift und einen Radiergummi (man wusste nie, wann man etwas ändern musste) hervor.
Noch immer kein Chef und noch immer kein Gespräch. Er ließ den Blick durch den Konferenzraum schweifen. Nicht ganz sein Geschmack, diese allgegenwärtigen Holzverkleidungen; noch weniger der hauptsächlich in Beige, Crème und ganz wenig Blau gehaltene Orientteppich, auf dem der große Tisch – aus dunklem Holz – und die halbwegs modernen Stühle aus verchromtem Stahlrohr standen. Viel mehr gab es nicht zu sehen. Er starrte eine Weile vor sich hin, als ihm zum ersten Mal klar wurde, in was für einem schlechten Zustand der Raum eigentlich war. Kaum eine Möbelkante nicht abgestoßen, die Tapeten auf den wenigen holzfreien Wandflächen fast vergilbt und der Teppich schon leicht abgenutzt. Sogar der hellbraune Boden, und der war kein billiges PVC aus heimischer Herstellung, sondern echtes Linoleum, wirkte mitgenommen.
Der Chef war ein Paranoiker, das wusste man. Und das hier waren die sichtbaren Folgen. Jede Renovierung, neue Möbel, Reparaturen an den elektrischen Leitungen oder sonstige Veränderung bargen die Gefahr der Installation von Abhörgerätschaften. Diese Teile waren wirklich winzig geworden. Ohne Probleme konnte man heute ein ordentliches Mikrofon samt Sender in einem Telefonhörer unterbringen. Da mussten noch nicht einmal mehr die Kupferleitungen direkt angezapft werden. Für all die Vorsichtsmaßnahmen hatte Gärtner in gewisser Weise Verständnis, aber selbst Aufzüge unrepariert zu lassen, das war doch ein bisschen viel des Guten. Wer tauschte schon streng geheime Informationen in einem offenen Fahrstuhl aus? Jedenfalls glaubte er, dass dies der Grund für den seit einiger Zeit nicht betriebsbereiten Pater Noster sein musste.
Noch ein Blick auf die Uhr, sieben Minuten nach acht. Er beschloss, irgendetwas zu tun, um wach zu bleiben. Er schrieb Datum, Uhrzeit und die Namen der Anwesenden in sein Notizbuch. Als Nächstes machte er sich – völlig überflüssigerweise – einen Arbeitsplan für die kommende Woche. Dann klappte er den Deckel wieder zu und wartete. Mit jeder Minute zeigte der Koffeinmangel größere Wirkung, und er hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Plötzlich hörte er laute Stimmen jenseits der Konferenzraumtür. Das Organ des Chefs, unverkennbar. Gärtner war wieder hellwach, der zuvor abgefallene Blutdruck sogar leicht erhöht.
Die schwere Tür wurde so heftig aufgestoßen, dass sie ungebremst gegen das dunkle Sideboard knallte und eine beeindruckende Kerbe erhielt, die niemals ausgebessert werden würde. Ein auffallend kleiner, dafür kompakter Mann ohne Hals und mit einem rundlichen Gesicht, das in diesem Moment entfernt an eine Bulldoge erinnerte, machte einen Schritt in das Konferenzzimmer und brüllte los, ohne jemanden anzusehen: »Was ist das für eine verdammte Schweinerei? Eine Sauerei! Wenn ich den erwische... der... die werden mich alle noch kennenlernen. Dem schlag' ich den Kopp runter!«
Keiner im Raum wagte zu fragen, worum es ging und wer woran schuld war. Gärtner vermied jeden Blickkontakt und begann, die Namen der Anwesenden zu unterstreichen. Als er wieder aufsah, war der Minister verschwunden. Offensichtlich ging die vorherige Konversation auf dem Flur weiter. Er konnte nichts Zusammenhängendes verstehen, schnappte aber »...machen Sie mir sofort eine Verbindung...«, »... interessiert mich einen verdammten Dreck...« und »...wie, nicht auffindbar?... Schaffen Sie diesen verdammten Stümper sofort her...« auf.
Ganz schlecht. Der Minister hatte offensichtlich ebenfalls nicht gefrühstückt. Oder noch schlimmer: Irgendein weltfremder Ignorant hatte das Frühstücksei des Chefs länger als viereinhalb Minuten im kochenden Wasser gelassen. Vielleicht hatte der Eierlöffel auch auf der Papierserviette gelegen, statt daneben. Oder die Serviette fehlte. Äußerst schlecht.
Schwere Schritte, ein Türknallen und der Minister stand an der Stirnseite des Konferenztisches. Bevor er sich auf das schwarze Leder des sehr westlich aussehenden Drehstuhls niederließ, richtete er das Wort an die Runde.
»So eine verdammte Schweinerei! An uns darf nichts vorbeigehen. Wir müssen jederzeit alles wissen. So ein verfluchter Käse darf einfach nicht passieren. Ich könnte mich maßlos aufregen über sowas!« Keiner der Sitzenden sagte ein Wort und jeder mied weiterhin den Blickkontakt. »Wenn das hier vorbei ist, dann wird es für einige Genossen ernsthafte Konsequenzen geben... Früher haben wir da kurzen Prozess gemacht, da gab es nichts. Jetzt ist die Lage anders, aber wenn es nach mir ginge...« Er brach ab und setzte sich. Nachdem er seine untere Gesichtshälfte mit der Linken einige Sekunden durchgewalkt und die Finger der rechten Hand das unregelmäßige Trommeln auf der Tischplatte beendet hatten, sprach er in ungewöhnlich ruhigem Ton weiter.
»Ich denke, es hat jeder mitbekommen, dass wir uns letzte Woche, genauer gesagt am siebten Februar, mit der BRD auf die Einrichtung gegenseitiger Vertretungen geeinigt haben. Genosse Nier sei Dank. Außerdem hat sich die Deutsche Demokratische Republik nach langen Verhandlungen entschlossen, mit dem NSA Verhandlungen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu führen. Sogar das Mutterland des Imperialismus darf wahrscheinlich in wenigen Monaten seine dreckigen Hufe ganz offiziell in unsere Republik setzen.«
Gärtner konnte sich nicht vorstellen, dass die Etablierung einer ständigen Niederlassung der BRD in Ost-Berlin und die Anbahnung diplomatischer Beziehungen zum sonstigen nichtsozialistischen Ausland, speziell zu den Amerikanern, die Gründe für eine so hektisch einberufene Sitzung sein konnten, zumal das alles keine echten Neuigkeiten mehr waren – und endgültige Fakten waren auch noch keine geschaffen worden, auch wenn im Falle der Vereinbarungen über Ständige Vertretungen die Gespräche bereits weit fortgeschritten waren.
Der Minister für Staatssicherheit fuhr fort: »Wie dem auch sei. Meine persönliche Meinung interessiert nicht. Ihr und ich, darum geht es. Wir haben uns der Sache, der großen Sache des Sozialismus auf deutschem Boden zu fügen. Und wenn der Genosse Honecker und die Mitglieder des ZK der Meinung sind, dass es der Sache dient, dass die Imperialisten bei uns Botschaften bauen dürfen, dann ist es eben so. Außerdem haben der Genosse Generalsekretär und das Politbüro schon überall verkündet, dass es einen großen Fortschritt für die Deutsche Demokratische Republik und den Frieden zwischen den Völkern bedeutet. Wir können jetzt keinen Ärger, kein Gerede und keine neugierigen Schreiberlinge aus dem Westen gebrauchen. Seit letztem Jahr haben die es ja noch einfacher, in der DDR zu spionieren, weil wir sie offiziell akkreditieren. Mensch.« Während der letzten Sätze war der ruhige Ton von offener Empörung verdrängt worden. Bevor Mielke in Rage geriet, legte er erneut eine Redepause ein. »Es gibt nach meiner Meinung schon genug Spione und Verräter in unserem eigenen Haus. Wir müssen aufräumen. Wir sind mehr als Schild und Schwert der Partei. Es geht um das Wohl unserer sozialistischen Gesellschaft. Also macht gefälligst eure Arbeit für unsere Republik. Ich will hier jetzt keinen langen Käse mehr!« Noch immer fragende Gesichter bei den Anwesenden. Nur der Mann, der Gärtner als Generalmajor Rehmers bekannt war, verzog keine Miene. Offenbar wusste er, was ihn erwartete. »Genosse Rehmers, ich will genau wissen, was da los ist. Das ist dein Operationsgebiet und deine Verantwortung. An uns darf nichts vorbeigehen. Wir müssen alles wissen, das kann nicht sein, dass sowas vorkommt. Haben wir das vollkommen unter Kontrolle?«
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