Die berühmte Therapie-Couch eines Psychologen gab es in Heises Behandlungsraum nicht, nur eine unbequem aussehende Liege auf Rollen. Aber Heise war ja auch Psychiater. Die arbeiten wahrscheinlich eher mit Zwangsjacken, ging es Keller durch den Kopf. Beherrscht wurde das Zimmer von zwei großen Arbeitstischen mit grünlicher Linoleumoberfläche, die vielleicht deshalb zusammengeschoben worden waren, um Aufzeichnungen von Ärzten auszulegen oder Konferenzen abzuhalten – oder um mehr Abstand zwischen Personal und Insassen zu bringen, wie Keller vermutete. Zumindest Letzteres hatte heute Nacht nicht funktioniert. Auf der gegenüberliegenden Seite der großen Tischfläche saß ein korpulenter Mann um die siebzig mit Nickelbrille und weißem Arztkittel. Hemdkragen und linker Ärmel waren mit Blut getränkt. In seinem kahlen Kopf steckte ein dunkler Stift.
»Guten Tag, Genossin...«, begrüßte Keller die dunkelhaarige Frau, die hinter dem Toten stand und dessen Kopf betastete.
»Moreaux, Karla Moreaux. Ich bin von der Inneren der Poliklinik Döbeln. Und der Leichenbeschauer des Bezirks.« Die schlanke Mittfünfzigerin zog den Sezierhandschuh von ihrer Rechten und streckte sie Keller entgegen.
»Guten Tag, oder vielmehr guten Morgen, Frau Doktor. Ich bin Oberleutnant Keller von der K in Leipzig. Ich habe mich gerade gewundert, dass die Tatortarbeit schon so weit fortgeschritten ist. Leichenbeschau und Spurensicherung fast fertig, das ist–« Keller zögerte einen Augenblick nachdenklich. »Nun ja, wurscht, wenn Sie aus der Gegend sind.«
Moreaux wirkte ebenfalls überrascht. Jedenfalls vergingen einige Sekunden, bevor sie antwortete. »Da haben Sie ja einen ganz schönen Weg hinter sich. Wusste gar nicht, dass es im Kreisamt in Döbeln keine Kriminalpolizei gibt.«
»Haben die schon, aber bei Mord wird den Kollegen vom VPKA schnell mulmig. Ich nehme an, die Spurensicherung ist schon durch?«
»Sowas, gleich Leipzig...«, murmelte Moreaux und nickte ungläubig.
»Entschuldigung, Doktor Moreaux?«
»Äh, ja natürlich, die Spurensicherung ist fertig. Und der örtliche Tatortfotograf war auch schon da. Die hätten mich sonst gar nicht hier reingelassen.«
»Na ja, Tatortfotograf, immerhin. Nur einen hauptberuflichen Rechtsmediziner haben die hier augenscheinlich nicht. Seltsame Wege geht die Bürokratie manchmal. Dann lassen Sie mal hören, Doktor.« Keller rang sich ein Lächeln ab und hoffte, dass die Ärztin nun konzentrierter antwortete.
»Der Tote ist Professor Heise. Ich kannte den Kollegen persönlich, guter Mann. Hatte einen Lehrstuhl für Neurologie und Psychologie an der Uni in Leipzig. Galt als echte Koryphäe am Universitätsklinikum. Seit seiner Emeritierung war er nur noch leitender Arzt hier in Waldheim. Aber das ist ja anstrengend genug, denke ich.«
»Über die Todesursache besteht wohl keine Unklarheit?« Der Polizist umrundete den Tisch.
»Nein, Genosse Oberleutnant. Er wurde erstochen. Mit dem Stift, der in seinem linken Ohr steckt. Dürfte zirka fünf oder sechs Zentimeter in sein Gehirn eingedrungen sein. Ist zu einem beträchtlichen Teil im Gehörgang verschwunden. Professor Heise war sofort tot, soweit ich das ohne weitere Untersuchung vermuten kann. So ähnlich wie bei einem Kopfschuss, bei dem das Projektil nicht austritt, nur nicht ganz so blutig.« Moreaux verzog das Gesicht, als habe sie Sodbrennen. »Mann, ich arbeite lieber mit Lebenden, das können Sie mir glauben, Genosse Keller. Auch nach beinahe fünfzehn Jahren geht mir das immer noch ganz schön an die Nerven.«
»Schon gut, Doktor. Ich habe mich mittlerweile fast an den Anblick gewöhnt – leider.«
Die Ärztin räusperte sich. »Ähem, ja. Im Laufe des Tages bekommen Sie von mir einen vorläufigen Bericht. Am Todeszeitpunkt besteht für mich kein Zweifel. Laut Zeugenaussagen gestern Abend, ziemlich genau drei viertel elf. Also vor zwei Stunden, was mit dem Zustand der Leiche zusammenpasst.« Sie zog einen neuen Handschuh über. »Rigor mortis am Kiefer setzt gerade ein. Temperatur stimmt ebenfalls mit dem vermuteten Zeitpunkt überein.«
»Das hier ist der Tatort?«
»Das hier ist mit Sicherheit der Tatort. Meines Erachtens passen die Blutspuren auf Haut und Kleidung des Toten sowie die auf der Tischplatte. Und Anzeichen dafür, dass der Professor post mortem bewegt wurde, sind nicht zu entdecken.«
»Gut, gut, Doktor. Ich denke, das wäre es fürs Erste. Alles Weitere wird ja der endgültige Bericht der KTU ergeben.« Keller besah sich die Mordwaffe aus der Nähe, während Moreaux ihre lederne Tasche packte. »Ein ganz normaler Kugelschreiber, kein Aufdruck oder Ähnliches, soweit ich das bis hier erkennen kann. Sieht nach heimischer Produktion aus. Ich würde sagen, wir verwenden die gleichen im Präsidium. Das wird uns kaum weiterhelfen. Tja, jedenfalls sieht das eher nicht nach vorsätzlichem Mord aus.«
»Ist der Täter Linkshänder?«
»Was meinen Sie, Doktor?«
Moreaux stand auf und schob ihre dickrandige Hornbrille mit dem Handrücken hoch. »Ach, nichts weiter, Oberleutnant.«
»Doch, doch. Raus damit, Frau Doktor. Wie kommen Sie darauf, dass Kaltenbrunn Linkshänder ist?«
Die Ärztin wirkte ein wenig genervt. »Ich meine nur, dass der Täter ja wohl Linkshänder sein muss, denn er kann den Professor nur von hinten attackiert haben – vor ihm auf dem Tisch wird er ja wohl nicht gestanden haben.«
»Verzeihen Sie, Doktor. Sie haben natürlich recht.« Keller gähnte. »Eine Stunde im Auto reicht anscheinend nicht, um wach zu werden. Ich notiere mir das besser.« Er betrachtete seinen Füllfederhalter. »Hmm... Vielleicht trotzdem eine Tat mit Vorsatz. Schließlich werden die Patienten in diesem Irrenhaus kaum Messer oder andere Dinge in die Finger kriegen, die als Waffe taugen könnten. Da muss man nehmen, was einem gerade so zur Verfügung steht.« Für Keller passte trotzdem nicht alles zusammen. »Sagen Sie mal, Doktor, die Spurensicherung hat keine Kappe zu diesem Stift gefunden oder einen Clip oder so etwas?«
Moreaux blickte Keller entgeistert an. »Was? Nein, nicht dass ich wüsste. Jedenfalls hat das mir gegenüber keiner erwähnt. Wieso? Spielt das eine Rolle?«
»Nun ja. Wenn ich davon ausgehe, dass der Kugelschreiber Professor Heise gehörte, dann frage ich mich, wo er ihn aufbewahrt hat. Der Tisch ist komplett leer, kein Stiftbecher, keine Schublade und auch sonst nichts, wo man Schreibutensilien aufbewahren würde.«
»Aha«, entgegnete Moreaux abwesend.
»Glauben Sie, Professor Heise würde einen offenen Kugelschreiber einfach so in die Kitteltasche stecken? Kugelschreibertinte macht kaum entfernbare Flecken. Nein, ich glaube, er hätte ihn genauso in die Brusttasche gesteckt wie den, der da noch ist – ordentlich mit Kappe.«
»Das stimmt wohl.«
»Es gibt aber keine Kappe, Doktor. Und einen Grund, den Kugelschreiber zu zücken, hatte er scheinbar auch nicht, oder sehen Sie hier etwas, auf dem man schreiben würde? Dokumente hat die Spurensicherung hier im Zimmer meines Wissens nicht gefunden. Der Tatort ist ja sicherlich soweit dokumentiert, wie ich hoffe.«
Moreaux wirkte gespannt, erwiderte jedoch nichts.
Keller machte eine ausholende Geste. »Wissen Sie was? Ich würde sagen, wir haben es mit vorsätzlicher Tötung zu tun. Das ist nicht Professor Heises Stift, völlig unwahrscheinlich. Das Einzige, was einen wirklichen Sinn ergibt, ist, dass der Mörder die Tatwaffe mitgebracht hat. Auch wenn mir dieser Kaltenbrunn im derzeitigen Zustand kaum zu geplantem Vorgehen fähig erscheint.« Der Volkspolizist stutzte kurz. »Aber wer weiß, vielleicht ist die Kappe noch auf dem Kugelschreiber drauf.«
»Jaja, man weiß nie, was in solchen Köpfen vorgeht...«, sagte Moreaux, während sie in ihrer Tasche herumkramte.
Keller konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er den Namen der Nachtschwester in sein abgegriffenes Notizbuch schrieb. Die Frau, die kurz vor dreiundzwanzig Uhr auf dem örtlichen Revier angerufen hatte, hieß Alice Patrizia Springfeld, was insofern unpassend wirkte, als sie sicherlich weder im Wunderland noch sonst wo herumhüpfen würde. Sie brachte trotz geringer Körpergröße gut zwei Zentner auf die Waage und schnaufte nach jedem Satz wie ein abgekämpfter Ackergaul. Von ihr erfuhr er, dass Professor Heise den Patienten Kaltenbrunn gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig auf dessen intensives Drängen hin in seinem Sprechzimmer empfangen hatte. Auf Kellers Nachfrage, ob dies nicht äußerst ungewöhnlich sei, erklärte die Schwester, dass Professor Heise ein ausgezeichneter Arzt und in wirklich dringenden Fällen auch nachts für seine Patienten zu sprechen gewesen sei. Außerdem habe er auf dem Klinikgelände gewohnt, wie die meisten Mitarbeiter des psychiatrischen Krankenhauses. Eine Viertelstunde später sei dann ein immer lauter werdender Streit aus dem Sprechzimmer zu hören gewesen, woraufhin sie die diensthabenden Aufseher herbeigerufen habe. Als die beiden Männer dann die Tür zu Heises Behandlungszimmer öffneten, sei es bereits wieder ruhig gewesen. Sie fanden den Professor ermordet auf seinem Stuhl und Kaltenbrunn leise jammernd zwischen Aktenschrank und Krankenliege kauernd. Die Pfleger Huber und Willendorf hatten den Patienten in einer Zwangsjacke fixiert, während Springfeld die Polizei rief.
Читать дальше