Alexej betrachtete das zerstörte Gewebe näher. »So eine Verletzung habe ich noch nicht gesehen. Von einem Wolf ist die sicher nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Sieht eher aus, als wäre der Biber krank gewesen.«
»Lass uns einfach weitergehen, ja?«
Nach dem Fund des Bibers war Alexej schweigsamer und bewegte sich rascher durch die buckelige Landschaft als zuvor. Sascha hatte das Gefühl, den Freund verärgert zu haben. Unglücklich versuchte er, weiter Schritt zu halten.
Die Sonne löste endlich den Hochnebel über ihnen auf und spiegelte sich hell in den vereisten Senken überall um sie herum. Überhaupt war das Gelände irgendwie anders geworden, bemerkte Sascha, als er den Blick für einige Momente vom Erdboden vor seinen Füßen löste. Als hätte jemand eine Decke nur nachlässig über ein Bett gebreitet, hob und senkte sich die Erdoberfläche hier auf engem Raum. Überall lagen kleine Tümpel verstreut, aus denen gefrorenes Gras stak.
»Ich hab's doch gewusst«, rief Alexej plötzlich und blieb stehen. »Siehst du das?«, fragte er mit ausgestrecktem Arm.
Sascha kniff die Augen zusammen. »Was ist das denn?«
»Lass uns nachgucken.«
Mit neuer Energie marschierten sie los in Richtung des dunklen, schroffen Schattens, der sich in gut hundert Metern Entfernung mannshoch über den Boden erhob. Nach wenigen Schritten trafen sie erneut auf einen Militärweg aus standardisierten Betonelementen. Keinem der Jungen fiel auf, dass dieser hier weniger verfallen war als der in der Nähe des Sperrzauns.
Der Plattenweg führte genau in die Richtung des Bauwerks, das immer mehr Ähnlichkeit mit einem Bunker aufwies, je näher sie kamen. Endlich wurde es spannend, dachte Sascha. Er hatte eigentlich keine Ahnung, was man dort finden konnte. Trotzdem besaß die Vorstellung, einen verlassenen Bunker zu erforschen, einen unerwartet hohen Reiz, der ihm die Handflächen schwitzig werden ließ. Während er wartete, schlich Alexej sich aufwendig an das ominöse Gebäude an, was Sascha mit einer Mischung aus Belustigung und Bewunderung beobachtete. Er hatte den Auftrag bekommen, aus der Deckung eines kahlen Holunderstrauchs heraus Wache zu halten. Alexej duckte sich alle paar Schritte tief in das Gras und umrundete den Bau zweimal in einer enger werdenden Spirale. Er sah nicht so aus, als mache er das zum ersten Mal. Erneut wunderte sich Sascha über seinen Freund. Er dachte an die Gerüchte, die über Alexejs Vater kursierten. Am liebsten hätte er ihn einfach gefragt, aber jedes Mal, wenn der Zeitpunkt geeignet erschien, brachte er es nicht über sich. Vielleicht würde er sich heute endlich überwinden, wenn sie sich auf den langen Weg zurück nach Hause machten.
Es waren vielleicht fünf Minuten vergangen, ehe Sascha einen seltsamen Pfiff hörte. So klang dann wohl ein Wiesenpieper, dachte er, denn das war das vereinbarte Signal für ihn nachzukommen. Er schlang sich den einen Riemen seiner Tasche über die Schulter und stakste durch den zunehmend matschigen Boden.
Minuten später war die Enttäuschung der beiden Abenteurer grenzenlos. »Verdammt nochmal, so eine Kacke.« Alexej trat gegen die Stahltür, die ihnen den Zugang verwehrte.
Er sah richtig wütend aus, fand Sascha. Jetzt, wo sie bloß herumstanden und auf den versiegelten Eingang starrten, wurde ihm wieder kalt und seine Zähne klapperten hinter den zusammengepressten Lippen.
»Ich sehe nach, ob es noch andere Wege da rein gibt«, erklärte Alexej und erklomm behände das kleine Bauwerk. Vielleicht verbarg sich darunter tatsächlich ein unterirdischer Bau – und dies war nur ein oberirdischer Zugang zu einem viel größeren Bauwerk. So mitten im Nirgendwo schien das Sascha unwahrscheinlich, aber was wusste er schon von Bunkern?
Alexej verschwand aus seinem Blickfeld, und Sascha ging auf dem freien und relativ ebenen Platz vor dem kleinen Gebäude einige Schritte umher. Eigentlich könnte man hier gut ein Feuerchen machen. Er und Alexej sollten im Sommer noch einmal herkommen, dann wäre es hier bestimmt prima, überlegte er, und trat auf den flachen kleinen Moorsee zu, dessen schilfbestandenes Ufer sich einen Steinwurf vom Bunker entfernt befand.
Vor Erstaunen blieb der Junge wie angewurzelt stehen. »Alexej!« Der Freund hatte ihn scheinbar nicht gehört, und zu sehen war er auch nicht. Ein kurzes Schaudern durchlief ihn.
»Alexej! Ich habe etwas gefunden!«
Es dauerte nochmal zwanzig Sekunden, bis Sascha Rascheln und die Schritte seines Freundes im hohen Gras hinter sich hörte.
»Was schreist du denn hier so–« Alexejs Mahnung blieb unvollendet. Er blickte voller Erstaunen auf das, was Sascha entdeckt hatte, und dann grinste er den Freund breit an. »Das ist verrückt! Sowas habe ich ja noch nie gesehen.«
Sie hockten sich vor die stabile Konstruktion aus Metallrohren, an der eine Reihe eckiger, verschiedenfarbiger Kästen befestigt war. Die kleinen eingeprägten Buchstaben und Ziffern waren im Gegenlicht nicht lesbar. Alexejs Finger fuhren prüfend an ihnen entlang, und dann schnappte an dem dunkelbraunen Gerät die Abdeckung empor.
»Sieh dir das an«, murmelte Alexej, nachdem er einem leisen Pfiff ausgestoßen hatte. Sascha kam näher und betrachtete die nun sichtbaren Bedienelemente und Anzeigen, den großen Drehknopf auf der rechten Seite. Die Beschriftungen waren deutlich erkennbar, für ihn aber völlig unverständlich.
Alexej schloss die Klappe wieder und wandte sich dem nächsten Kasten zu, aus dem stabile Kunststoffschläuche zu kleineren, länglichen Apparaten führten.
»Was machst du denn da?«
»Wonach sieht es denn aus, Sascha?« Alexej hatte seine grünen Wollhandschuhe ausgezogen und zwischen die knochigen Knie geklemmt. Nun schob er seine Finger unter die Halterung und löste die etwa handlangen, röhrenförmigen Endstücke heraus, dann drehte er sie, bis sich die Anschlüsse lockerten. »Wir nehmen uns ein paar Andenken mit.«
Sascha nahm die kleine Trophäe entgegen. Es rumorte in seinem Magen, denn das war jetzt garantiert verboten. Er hatte noch nie etwas genommen, was ihm nicht gehörte. Er hatte noch nie gestohlen.
Das Geräusch eines Motors war plötzlich da.
Sein Herz blieb für einen Moment stehen, alles Blut wich ihm aus dem Kopf. Er und sein Freund starrten einander an und konnten sich nicht rühren. Dann tauchte ein dunkelgrüner Wagen aus dem Nichts zwischen den fernen Buckeln der Landschaft auf und ratterte wie ein Schnellzug den Plattenweg entlang. Er war vielleicht fünfhundert Meter entfernt, dann vierhundert. Dreihundert. Als sie endlich aufsprangen, um zu ihren Rucksäcken zu rennen, wurden sie von den Männern im Geländewagen entdeckt. Das Auto wurde einen Augenblick langsamer – dann trat der Fahrer aufs Gas.
»Scheiße, sie haben uns gesehen.« Die Stimme seines Freundes zitterte. Er war schon bei ihrem Gepäck angekommen und warf Sascha seinen Rucksack hart entgegen. »Renn.«
»Aber wohin denn?«
»Zurück. Ab hier kommt der Sumpf«, schrie er ihn an. »Jetzt renn endlich los!«
Sie überquerten den betonierten Panzerweg so knapp vor dem heranpreschenden Militärfahrzeug, dass sie die Gesichter der zwei Insassen erkennen konnten. Wie die Hasen wetzten die Jungen im Zickzack über Grasbuckel und matschige Senken; einfach nur weg. Der lose sitzende Rucksack schlug Sascha bei jedem Schritt hart aufs Rückgrat, aber er bemerkte es in seiner Panik kaum.
Der Wagen war mit Knirschen und grellem Quietschen zum Stehen gekommen. Jetzt war Fluchen zu hören. Dann hallte ein lauter Knall durch die Luft. Er erstarrte und drehte sich um. Wieder war er unfähig, sich von der Stelle rühren, obwohl Alexej sich immer weiter entfernte. Die zwei Soldaten setzten ihnen nach, und der eine hob erneut sein Gewehr an die Schulter. Ruhig legte er an. Aber nicht auf ihn.
Sascha wollte schreien und öffnete den Mund, doch die notwendige Luft blieb irgendwo in seinem Hals stecken. Zum Glück, denn hätte sein Freund sich umgedreht, hätte die nächste Kugel nicht den Rucksack getroffen, sondern seinen Brustkorb. Die Projektile zerfetzten den groben Stoff der Tasche an der Seite. Als klar wurde, dass Alexej offenbar unverletzt weiterrannte, konnte er sich aus seiner Starre lösen. Sascha rannte los. Die Richtung war gleichgültig, die Landschaft bot in keiner Richtungen eine erkennbare Deckung. Dem Freund weiter zu folgen, kam ihm nicht in den Sinn – er wäre unweigerlich in die Schussbahn geraten.
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