Die Befragung der beiden Männer hatte Keller nicht weitergebracht. Sie hatten kaum Kontakt zu Kaltenbrunn, der sowieso mit niemandem außer mit Professor Heise und manchmal mit seinem Betreuer, einem gewissen Jörg Tassel, sprach.
Dieser junge Krankenpfleger stand nun völlig schlaftrunken hinter der Schwester und umklammerte einen emaillierten Metallbecher mit dampfendem Kaffee.
»Entschuldigung, Frau Springfeld, hätten Sie für mich vielleicht auch...«
»Oh, ja. Na klar.«
Nachdem Keller hastig einen großen Schluck genommen und sich der drückende Schmerz in der Speiseröhre etwas gelegt hatte, wandte er sich mit leidender Miene an Tassel. »Was können Sie mir über Doktor Kaltenbrunn sagen? Was ist er für ein Mensch? Womit hat er sich beschäftigt? Was macht er den ganzen Tag? Erzählen Sie doch mal.«
Tassel zögerte, als wisse er nicht recht, wo er anfangen sollte. »So genau weiß ich das gar nicht, Herr Kommissar. Ich kann Ihnen tatsächlich nicht viel über Doktor Kaltenbrunn sagen.«
Kellers Hoffnung, bei der Vernehmung zu nächtlicher Stunde nicht viel sagen zu müssen, zerschlug sich. Wie bei den meisten Befragungen würde er auch diesmal mehr reden als der Zeuge. Einen Vorwurf machte er den Befragten nie, es war schließlich nicht so einfach, aus dem Stegreif einen Vortrag zu halten. Würde man ihn fragen, was für ein Mensch sein Vorgesetzter ist...
»Nun gut. Erinnern Sie sich, wie er war, als er eingeliefert wurde? War er aggressiv oder ruhig? Hat er etwas Spezielles gesagt oder getan? War er klar oder so abwesend, wie ich ihn vorhin erlebt habe? Vielleicht hatte er Gegenstände bei sich, die uns helfen könnten, die Umstände seiner Tat zu erklären?«
»Ich war nicht dabei, als er aufgenommen wurde, und habe ihn erst am nächsten Tag gesehen, als ich ihm zugeteilt wurde. Da wirkte er eher ein wenig verängstigt, nicht gewalttätig. War er eigentlich später auch nicht. Nein, nicht soweit ich mich erinnere.«
»Wann genau war das? Ich meine, wann wurde er eingeliefert?«
»Das war im Oktober, kurz nach dem Tag der Republik, glaube ich.«
»Aha. Sagen Sie, Herr Tassel, wenn ein Mensch hier eingeliefert wird, wird er dann gleich behandelt? Ich meine, bekommt er sofort Medikamente?«
»Ja, nachdem alle Aufnahmeformalitäten erledigt sind, wird der Patient von einem Arzt untersucht, und meistens wird dann auch gleich mit der Therapie begonnen. Also auch mit der Medikamentierung.«
»Von Professor Heise, nehme ich an.«
Der junge Pfleger wirkte abwesend. »Wie? Ach ja, bei Kaltenbrunn ist der behandelnde Arzt Professor Heise.«
»Gut«, meinte Keller gedehnt. »Herr Tassel, was sind denn das für Medikamente? Was hat Doktor Kaltenbrunn verordnet bekommen?«
»Doktor Kaltenbrunn hat Paramnesie.«
Keller zog die Augenbrauen hoch und schraubte die Kappe seines Füllfederhalters ab.
»Das ist eine Gedächtnisstörung. Der Patient erfindet dann Ereignisse und erinnert sich an Sachen, die es gar nicht gegeben hat.« Tassel wartete, bis der Polizist seine Erklärung notiert hatte und den Blick hob. »Gegen die Unruhe und Schlafstörungen hat Kaltenbrunn Meprobamat und Radedorm bekommen.«
Keller unterstrich die Namen der Präparate. »Aha, gut. So eine Art Münchhausen stelle ich mir da vor. Und das ist alles? Keine weiteren Medikamente? Nur gegen Unruhe und Schlafstörungen? Nichts gegen diese Paramnesie.«
Noch ehe Tassel antwortete, meldete sich die Springfeld zu Wort. »Außerdem natürlich noch täglich eine Vitaminspritze. Aber fragen Sie mich jetzt nicht nach der genauen Zusammensetzung. Die habe ich immer beim Professor abgeholt, oder er hat sie persönlich verabreicht.«
»Ist es nicht ungewöhnlich, dass der Chefarzt selbst die Medikamente austeilt?«
Tassel blickte zur Decke, als stünde dort die Antwort. »Nun ja. Das kommt nicht häufig vor. Es gibt aber schon Patienten, bei denen das so gehandhabt wird.«
»Außerdem mag... mochte der Professor den Kaltenbrunn irgendwie. Den Eindruck hatte ich«, ergänzte die Springfeld.
»Er mochte ihn?«
»Ja, ich glaube schon. Kaltenbrunn hat wohl viel gezeichnet. Das hat dem Professor auf eine Weise imponiert. Schließlich war Kaltenbrunn ja auch Wissenschaftler.«
»Wissenschaftler?«
»Ja, weiß ich auch nicht so genau... Hat Professor Heise mal erwähnt, glaube ich...«, druckste die Schwester.
Keller wandte sich wieder an Tassel. »Was hatten Sie für einen Kontakt zu Kaltenbrunn? Hat er Ihnen etwas über sein Leben erzählt, was er vorher gemacht hat und warum er krank geworden ist?« Keller spürte deutlich, dass seine Fragen in eine Richtung schwenkten, die dem Pfleger überhaupt nicht behagte.
»Nein. Nein, hat er nicht. Ich weiß nur, dass der Professor sagte, Kaltenbrunn könne nicht mehr zwischen Realität und Fantasie unterscheiden. Er hat eine Paramnesie, das habe ich Ihnen ja schon gesagt. Das hat mit Münchhausen übrigens überhaupt nichts zu tun. Es geht da meistens eher um Traumata oder Wahnvorstellungen, unter denen der Patient sehr leidet.«
Keller zog die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts. Es reichte, um den Pfleger weiter unter Druck zu setzen.
»Hören Sie, Herr Kommissar, ich weiß wirklich nichts weiter. Das müssen Sie mir glauben.« Er holte tief Luft. »Der Kaltenbrunn, er... er fühlte sich verfolgt. Die ganze Zeit. Er hat kaum etwas anderes erwähnt, wenn er sprach – und das war sowieso äußerst selten. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, ehrlich. Außerdem wollte der Professor nicht, dass wir darüber sprechen. Er meinte, das würde Kaltenbrunn nur schaden. Und das wollte ich ja auch nicht.«
»Verfolgt? Von wem?«, hakte Keller nach.
Tassel zuckte mit den Schultern. »Aber ich weiß es doch nicht, Herr Kommissar. Er hat immer nur unverständliche Andeutungen gemacht, zusammenhangloses Zeug. Da konnte man nicht draus schlau werden. Das ist überhaupt nicht wichtig.«
Wieder schaltete sich die Schwester ein. »Nur einmal hat er sowas gesagt, dass eine grüne Mamba uns alle umbringen und dass der Tag näher rücken würde. Keine Ahnung, was das heißen soll.«
Roland Gärtners Ausgeglichenheit hing in nicht unwesentlichem Ausmaß von einem durchstrukturierten Tagesablauf ab. Wenn man ihn für den ganzen Tag verärgern wollte, musste man einer Sache, die in seinem Verantwortungsbereich lag, nur ein wenig zu viel Dringlichkeit zuordnen. Was er am meisten hasste, war es, gehetzt zu werden.
Heute Morgen war einer von diesen Tagen. Nicht nur, dass er beinahe eine Stunde vor der Zeit aus dem Bett geholt worden war, nein, man hatte ihm auch nicht zugestanden, die beiden obligatorischen Tassen Kaffee zu trinken – mit Sahne und jeweils zwei Stücken Zucker. Nicht einmal zu einer Zigarette an der frischen Luft gab man ihm Gelegenheit. Sein Fahrer hatte keinen Zweifel daran gelassen, mit welcher Priorität seine baldigstmögliche Anwesenheit im kleinen Konferenzraum realisiert werden sollte. Gärtner vermied es, Kelkowitz nach den genauen Worten des Chefs zu fragen. Er konnte sich die Auftragsvergabe lebhaft vorstellen. Außerdem würde es sowieso nichts nützen. Sein Tag war gelaufen, daran ließ sich nichts mehr ändern.
Und so kam es, dass der dunkle Peugeot um genau sieben Uhr neunundfünfzig auf den Innenhof vor Haus sieben rollte. Mit Unbehagen bemerkte Gärtner, wie nachlässig die schwarze Riesenlimousine des Chefs neben dem Eingang von Haus eins geparkt war. Das verhieß nichts Gutes. Es kam ziemlich selten vor, dass der Chef so früh im Ministerium auftauchte. Gärtner bekam einen kurzen Schweißausbruch, als ihm in den Sinn kam, dass der Chef womöglich in seinen Diensträumen übernachtet hatte; dann musste es ganz übel stehen. So etwas war bisher nur ein einziges Mal vorgekommen, soweit er sich erinnern konnte.
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