1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Keller seufzte, als ihm mit einem Mal bewusst wurde, dass er genau genommen nichts über diesen Kaltenbrunn wusste. Restlos alle Informationen über ihn stammten vom Klinikpersonal, und das gab sich offensichtlich Mühe, möglichst wenig preiszugeben. Doch vorausgesetzt das Wenige, was er von Jörg Tassel und der Springfeld erfahren hatte, stimmte, dann war die Theorie vom obdachlosen Landstreicher unwahrscheinlich. Insbesondere Professor Heises auffälliges Interesse an dem Patienten wäre so kaum zu erklären.
Nein, alles sprach dagegen, dass dieser vermeintliche Wissenschaftler aus einer verwirrten Laune heraus beschlossen hatte, seinen Arzt und damit seine wichtigste Kontaktperson zu töten. Und was hatte Kaltenbrunn damit gemeint, als er sagte, er habe Heise töten müssen, weil der ihn daran habe hindern wollen, mit jemandem 'von draußen' zu reden?
»Genosse Oberleutnant, Major Schüttau schickt mich.« Ein jüngerer Mann stand in der halboffenen Tür zu Kellers kleinem Dienstzimmer. Obermeister Kohn blickte neugierig über den aktenbedeckten Schreibtisch und die vollgestopften Regale, ließ jedoch keine Absicht erkennen, den Grund seines Kommens zu nennen.
Nach einer knappen Minute verlor Keller die Geduld. »Ja, Genosse Obermeister?«
»Ach so, Major Schüttau erwartet Ihren Bericht in zwanzig Minuten. Ich sollte Sie nur daran erinnern.«
Keller verzog das Gesicht. Für einen Moment hatte er schon gehofft, dass der Leiter der Kriminalpolizei ihm einen Mann zur Verstärkung geschickt hatte, auch wenn Genosse Kohn nicht gerade seine erste Wahl gewesen wäre. Stattdessen blieb die 'Soko Heise' offensichtlich ein Ein-Mann-Unternehmen. »Was machen eigentlich Möllen und Schnetz?«, fragte er, bevor Kohn verschwinden konnte.
»Untersuchen einen Raub im Stellwerk. Da hat jemand–«
Keller winkte ab. »Schon gut, Kohn. Einen schönen Feierabend wünsche ich noch.«
Nachdenklich lauschte er den sich entfernenden Schritten. Schließlich griff er ein letztes Mal am heutigen Tage zum bakelitenen Hörer seines Dienstapparates. Wenigstens war in einer Irrenanstalt immer jemand zu erreichen.
»Sonne«, meldete sich eine Frauenstimme, die er schon kannte. Es war die Sekretärin des Anstaltsleiters. Kurz und knapp stellte er seine Fragen. Kurz angebunden waren die Entgegnungen des Fräulein Margarete Sonne. »Genosse Oberleutnant, ich kann Ihnen wirklich keine weiteren Auskünfte geben. Was es für Sie zu wissen gibt, finden Sie in den Akten von Doktor Kaltenbrunn.«
»Sie nennen ihn auch Doktor.«
»So steht es in den Akten«, erwiderte sie prompt.
Diese hochnäsige Vorzimmerdame schaffte es, ihn zur Weißglut zu treiben. Bemüht, nichts Unüberlegtes zu sagen, atmete er tief durch, um dann in möglichst freundlichem Ton fortzufahren: »In den Akten steht nur leider außer seinem Titel überhaupt nichts. Ich habe bislang nicht einmal seinen letzten Wohnort in Erfahrung bringen können.«
»Es kann wohl nicht meine Aufgabe sein, Ihre Arbeit zu machen, Genosse Keller.«
»Ihre Aufgabe wäre es aber, Ihre Patientenakten wahrheitsgetreu und umfassend zu führen.«
»Möchten Sie hier etwas unterstellen, Genosse Oberleutnant? Wenn dem so sein sollte, verbinde ich Sie besser gleich mit Professor Doktor–«
Keller lachte kurz auf. »Fräulein Sonne. Können Sie mir wenigstens sagen, wer Heinrich Kaltenbrunn in Ihre Klinik eingewiesen hat? Nicht einmal das konnte ich nämlich diesen Akten entnehmen.«
Einige Augenblicke herrschte Stille in der Leitung. Dann vernahm er das Geräusch von Schubladen und Papier. »Tut mir leid, Genosse Keller. Diese Information ist nicht verfügbar.« Damit legte Fräulein Sonne auf.
»Nicht gerade viel, Keller. Jetzt setzen Sie sich endlich. Vielleicht noch einen Kaffee?« Schüttaus Laune hatte sich seit dem Mittag nicht merklich gebessert. Keller blieb stehen und unterdrückte ein Gähnen.
»Das sind doch keine Ermittlungsergebnisse. Sie wissen nicht, wo dieser Kaltenbrunn herkommt, was er beruflich gemacht hat, nicht einmal, ob das tatsächlich sein richtiger Name ist. Geschweige denn, dass Sie ein Motiv nennen können. Ach, und wer weiß schon, ob das alles überhaupt eine Rolle spielt. Der Schlamassel ist da, und dieser Professor Heise wird auch nicht wieder lebendig.«
Keller verkniff sich jegliche Äußerung und wartete darauf, dass sein Chef sich einen Ausweg konstruierte, mit dem sie beide schnell und ohne Blessuren aus dieser Mordermittlung herauskämen.
»Der Fall an sich ist ja klar. Es kann doch nicht so schwer sein, ihn abzuschließen«, machte sich der Major Luft. »Schließlich ist dieser Kaltenbrunn verrückt, wie soll man da ein schlüssiges Tatmotiv erwarten? Vielleicht sollte es anschließend noch eine Diskussion über die Sicherheitsvorschriften in derartigen Anstalten geben... Aber das ist schließlich nicht unsere Angelegenheit.«
»Sie haben es ja selbst gesagt, in diesem Fall wird nicht viel zu ermitteln sein«, gab Keller beipflichtend zurück, obwohl ihn die Doppelzüngigkeit hinter Schüttaus Vorwürfen erheblich ärgerte.
Der Major war mit seiner eigenen Zurechtlegung des Falles nicht zufrieden. »So ein Mist! Aber wenn Sie schon anfangen zu ermitteln und solche Ungereimtheiten auftauchen, dann steckt da am Ende tatsächlich noch etwas dahinter, verdammt.« Der Major musterte Keller. »Sie gehen am besten zurück nach Waldheim und versuchen, ein Geständnis von diesem Kaltenbrunn zu bekommen. Es ist doch alles klar, was die Tat angeht. Gerede über die Sache kann niemand gebrauchen. Sie kriegen das schon hin.«
»Wen kann ich mitnehmen?«
Kellers Vorgesetzter schien das für einen gelungenen Scherz zu halten. »Ich bin mir sicher, dass Sie es auch weiterhin alleine schaffen, Oberleutnant. Sehen Sie lieber zu, dass Sie einen Deckel drauf machen. Ich will diese Angelegenheit aus der Welt haben – und aus meinem Kommissariat!«
Zurück in seinem Dienstzimmer machte Keller seinem Ärger Luft und fegte das Bakelittelefon, das bisher nur seine Zeit verschwendet hatte, vom Tisch. An so einem Vorgesetzten konnte man zum Mörder werden; fast konnte er den irren Kaltenbrunn verstehen. Er musste zurück in dieses Irrenhaus in Waldheim. Diese pampige Sekretärin Sonne, die fette Nachtschwester Springfeld, alle waren sie nicht koscher. Und dieser junge Pfleger, Jörg Tassel, der war richtig ins Schwimmen gekommen, als die Sprache auf Kaltenbrunn kam. Und wer wusste es schon? Eventuell hatte der verrückte Doktor einen hellen Moment. Am besten war es, er fuhr jetzt gleich.
Unter Fluchen hob er den Fernsprecher auf und stellte fest, dass der Hörer einen langen Riss aufwies. Mist, für diese Aktion würde das kostbare Tesa-Band draufgehen, das seine Schwester im letzten Fresspaket versteckt hatte.
Er konnte sich den gewünschten Inhalt der Ermittlungsakte Heise genau vorstellen: Ein amoklaufender Verrückter tötet in sinnloser Raserei den verdienstvollen, ehrenwerten Professor Heise. Ein tragischer Unglücksfall. Keiner kann etwas dafür, keiner konnte sowas voraussehen, keiner kann sich erklären, wie es dazu kommen konnte. Die Sicherheitsvorschriften würden noch einmal überdacht und ein bisschen modifiziert. Staatsbegräbnis für den Wohltäter, salbungsvolle Reden und eine Ladung Kränze von den richtigen Stellen. Der arme Irre verschwindet unauffällig von der Bildfläche, und das Leben geht weiter...
Aber nicht mit Oberleutnant Josef Keller. Oh, er würde einen Deckel auf diese ganze Chose machen, nur nicht so, wie der Genosse Schüttau sich das vorstellte. Wenn dabei Dreck aufgewirbelt und einige saubere Westen schmutzig würden, sollte es ihm recht sein.
Grimmig rückte er seine Kappe zurecht, legte Schal und Trenchcoat über den Arm und nahm die Wagenschlüssel aus dem Wandkasten. Auf Abmeldung und einen Eintrag ins Fahrtenbuch verzichtete er.
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