Mit steigendem Interesse, beobachtete Sibel den Funkenflug zwischen Adriana und Steve. Der coole Typ lässt tatsächlich die Maske fallen , grinste sie still in sich hinein.
»Ich bin ihnen auf der Spur!« In Adrianas Augen stieg ein bedrohliches Funkeln. »Und ich werde nicht eher Ruhe geben, bis ich Gewissheit habe, was mit meinen Kindern geschehen ist. Sie sind diesem Ring zum Opfer gefallen, da bin ich sicher. Genauso wie ich mir sicher bin, dass Damian und Penelope noch leben!«
Sibel hielt den Atem an.
»Von welchem Ring sprichst du?«
»Sie sind organisiert. Ich denke, dieser Kinderhändlerring verkauft die entführten Kinder weltweit an elternlose Supereiche.«
»Oder missbraucht sie für eigene Interessen«, warf Sibel ein. »Doch wie und wem willst du auf der Spur sein?«
»Mein Onkel Sirius ist Chef bei der E.Y.P.«
»E.Y.P., was ist das?«, mischte sich nun Steve in das Gespräch ein. Es fiel ihm sichtlich schwer, seine Augen von Adriana zu lassen. »Das ist die Bezeichnung für den griechischen Geheimdienst, besser bekannt unter der englischsprachigen Bezeichnung N.I.S. Das steht für National Intelligence Service. Mein Onkel Sirius hat mich einen Blick auf seinen Schreibtisch werfen lassen. Ich habe mir Zugang zu geheimen Dossiers verschafft. In Europa soll es eine zentrale Sammelstelle geben. Alle Spuren führen nach Italien, nach Ponte di Legno. Dort, in der Lombardei, an der Grenze zu den Provinzen Sondrio und Trentino soll es ein Lager geben – gut versteckt in den Alpen, Richtung Bozen. Es gibt allerdings untrügliche Anzeichen, dass auch ein Lager in der Nähe Londons existiert.« Adriana strich die Haare hinter die Ohren und schaute nachdenklich.
»Was hast du vor?«
»Sibel, was wir brauchen, ist Öffentlichkeit. Ich werde denen auf die Pelle rücken. Ich (sie stockte) will (erneutes Stocken) meine Kinder zurück!«
Zum ersten Mal an diesem Abend zeigte Adriana so etwas wie Schwäche. Sie biss sich auf die Lippen, um einen Schluchzer zu unterdrücken.
»Wie können wir dir helfen?« Sibel legte eine Hand auf ihre Schulter.
»Helft mir dabei, Augen und Ohren offen zu halten. Ich brauche Leute, die mir dabei helfen die Großräume der Flughäfen unter die Lupe zu nehmen. Kommt es dort zum Beispiel irgendwo zu regelmäßigen Großeinkäufen, abweichend von den bekannten Abnehmern. Einkäufe, die darauf schließen lassen, dass eine größere Gruppe außerplanmäßig versorgt wird. Der kleinste Hinweis könnte wichtig sein. Und wie sieht die Situation in den Heimen, Krankenhäusern und Kliniken aus. Gibt es verschlossenen Stationen, hinter deren Türen unbekannte Gruppen untergebracht sind?«
»Heime, Krankenhäuser«, murmelte Sibel.
»Ich möchte hier ein Netzwerk aufbauen!«
»Du kannst auf mich zählen«, murmelte Sibel und wandte sich dann zur Überraschung aller schnell ab. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wählte mit verbissener Miene eine Nummer.
»Was ist los? Wo willst du hin? Wen rufst du an?« Mikel war ihr nachgeeilt.
»Ich versuche, Bob zu erreichen. Nach dem Anruf aus der Klinik habe ich nichts mehr von ihm gehört.« Sibel hob beunruhigt eine Augenbraue und fixierte Mikel. »Was soll ich tun, wenn er sich nicht meldet? Er geht schon wieder nicht ran!« Mit verstörter Miene ließ Sibel das Handy in die Seitentasche des offenstehenden Kapuzenpullovers gleiten.
»Hey ihr beiden Turteltäubchen!« Steve grinste und rieb sich die Hände.
»Was haltet ihr davon, wenn wir noch zu uns fahren? Adriana würde sich gerne anschließen.«
Gute Idee, hatte Mikel geantwortet. Sibel nickte zustimmend. Zehn Minuten später verließen sie den Klub. Es nieselte. Sibel schlotterte. Sie schlugen die Kragen ihrer Mäntel und Jacken gegen die Kälte hoch und zogen die Schultern ein, unschlüssig, ob sie nach einem Taxi Ausschau halten sollten.
»Lasst uns bis zur nächsten Station laufen«, hatte Steve schließlich vorgeschlagen und war dabei Adriana nicht von der Seite gewichen. Die beiden hätten gegensätzlicher nicht sein können. Doch augenscheinlich zogen sie sich wie gegenpolige Magnete an.
Sie gingen nebeneinander her und schwiegen. Das Quietschen und Klackern der Sohlen und Absätze auf den verwitterten Gehwegplatten waren die einzigen Geräusche, die an ihre Ohren drangen. Die Stadt schien wie ausgestorben. Bei diesem Scheißwetter, kein Wunder, dachte Sibel. Schließlich durchbrach Mikel das Schweigen, als er einem einsamen Straßenverkäufer, der vor dem stärker werdenden Regen Schutz in einem Hauseingang gesucht hatte, die aktuellste Ausgabe des Mirror aus der Hand pflückte.
»Mal schauen, was es Neues bei den Gunners gibt«, feixte Mikel um die Stimmung ein wenig aufzulockern und wischte dabei mit der Linken durch sein regennasses Gesicht.
Der Himmel hatte sich pechschwarz verfärbt. Die ehrwürdigen Straßenlaternen suggerierten ein Licht, das dem von trüb ausgeleuchteten Aquarien ähnelte. Im Eilschritt legten sie nun die letzten Meter bis zur U-Bahnstation zurück und umkurvten dabei die immer tiefer werdenden Pfützen. Als sie schließlich die Rolltreppen erreichten, atmeten sie erleichtert durch. Mikel drehte sich über die Schulter und reichte nach einem flüchtigen Durchblättern die Gazette an Sibel weiter.
»Hier hast du was zu studieren, auf der Suche nach Auffälligkeiten«, zwinkerte Mikel.
Sibel schüttelte unmerklich den Kopf und hing ihren Gedanken nach: Weshalb macht er jetzt auf locker und oberflächlich? Es scheint, als habe er mit Steve die Rollen getauscht. Dann fiel ihr Blick auf den Mirror und im nächsten Moment gefror ihr das Blut in den Adern.
Mord in Kensington: Gestern gegen 0:30 wurde ein junger Mann an der Haltestelle High Street Kensington von einer herannahenden Bahn aus Hammersmith erfasst. Er war auf der Stelle tot. Es scheint sich dabei jedoch offensichtlich nicht, um einen Unfall gehandelt zu haben. Augenzeugen wollen gesehen haben, wie der Mann von zwei schwarz gekleideten Personen vor die herannahende Bahn gestoßen wurde. Bei dem Getöteten handelt es sich um den 25-Jährigen Pfleger Bob Salt.
Sibel drückte Mikel die Zeitung in die Hand und ließ sich auf die nächststehende Holzbank niedersinken. Sie wurde kreidebleich. Sie zitterte. Mikel legte den Arm um Sibel und sie bettete schluchzend ihren Kopf an seine Schulter. Geschlagene zehn Minuten saßen sie schweigend, während die U-Bahnen ein und ausfuhren und ständig neue Passagiere auf den schmutzigen Bahnsteig ausspuckten.
Später hatten bis in die frühen Morgenstunden in der Sudbourne Road zusammengesessen. Es gibt keine Zusammenhänge, es kann keine Zusammenhänge geben, hatten Mikel und Steve am Ende jeder Diskussion resümiert . Doch Sibel wusste, dass Adriana das gleiche, seltsame Gefühl wie sie beschlich. Konnte man vor diesen Fakten die Augen verschließen:
o Entführungen
o ein Arzt, der sich weigert, Testreihen mit verbotenen Psychopharmaka an Kindern durchzuführen und dafür lobotomiert wird
o ein Zeuge, der dem Verbrechen zu Nahe kommt, wird vor den Zug gestoßen
Wie sicher kann ich mich überhaupt noch fühlen? fragte sich Sibel.
Am frühen Morgen, als die anderen schliefen (Steve einen Arm um Adriana geschlungen), rief Sibel ihre Mutter an und bat um Rat. Nachdem sie Vici die Geschehnisse der letzten Tage geschildert hatte, war die sonst so starke Stimme ihrer Mutter in ein Flehen gewechselt:
Sibel! Bitte! Du meldest dich weiterhin krank! Sibel! Ist das klar? Treffe dich mit niemandem mehr aus der Klinik. Schau, dass du da rauskommst. Ich weiß, du denkst, dass ich überreagiere, doch es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die können wir nicht verstehen, erklären oder beeinflussen. Es gibt Dinge, die entziehen sich unserer Vorstellungskraft! Du solltest für eine Zeitlang das Land verlassen. Flieg zu Jefferey, deinem Vater. Du weißt, wo du ihn findest. Dort unten in Kanada, am Winnipeg Lake, bist du sicher.
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