»Na dann hast du ja `ne nette Nacht verbracht«, feixte Mikel. »Und was ist mit deiner großen Liebe zu Sibel? Oder hast du dich gerade frisch verknallt?«
»Gestern Abend ist mir klar geworden, dass Sibel zu kompliziert ist«. Steve massierte seine Schläfen mit einem vor Schmerz verzerrten Gesicht. »Mit Suzanne das war ein One-Night-Stand, schätze ich. Und in Sachen Sibel ist die Bahn für dich frei«, grinste er gequält.
»Was meinst du denn damit schon wieder?«
»Ach Alter, glaubst du im Ernst, ich bemerke nicht, was ab geht? Aber Vorsicht, verrenn dich nicht. Das wird nicht einfach. Irgendwie tickt die nicht ganz sauber. Lass dich in nichts reinziehen.«
»Du machst mich fertig«, stöhnte Mikel und schaufelte drei Löffel Zucker in seinen Tee.
2011 - 17.4., 14:45
Großbritannien
London, Kensington,
Stratford Road
Szene 33
Innenaufnahme: Die Fenster des Apartments sind geöffnet. Draußen regnet es ohne Unterlass. Sibel mit Schlüpfer und T-Shirt bekleidet versucht, Ordnung ins Chaos zu bringen. Im Hintergrund läuft Neil Young. Auf dem Herd pfeift ein altmodischer Wasserkessel.
Sibel war in Gedanken beim gestrigen Abend, beim Abschied von Mikel. Doch das plötzlich einsetzende Läuten des Telefons ließ sie aus ihrem Tagtraum schlagartig aufschrecken.
»Hi, hier ist Bob!«
Seine Stimme klingt gehetzt. Innerhalb von Sekunden übertrug sich seine Anspannung auf Sibel.
»Sie haben Löwenherz verlegt!«
»Was ist passiert?«
»Keine Ahnung! Ich fürchte, die machen Ernst! Ich konnte noch kurz mit ihm reden.«
»Was hat er gesagt?« Sibel hielt den Atem an.
»Er erzählte, dass sich das Böse irgendwo in Südamerika zusammenbraue. Dass das jetzt aber sowieso keine Rolle mehr spiele. Das Spiel ist aus, sagte er. Er bat mich, Gnade wallten zu lassen und ihm die Todesspritze zu setzen, wenn er nicht mehr klar denken könne.«
»NEIN!« schrie Sibel in den Hörer hinein. Hat er sonst noch irgendetwas gesagt?«
»Er sprach vom ewigen Leben. Immer wieder stammelte er D.H.!D.H.! Dann erschien Paul. Löwenherz verstummte wie am Tag zuvor und dieser Fascho warf mir düstere Blicke zu. Zehn Minuten später rollten sie 251011M9 Richtung OP-Trakt.«
»Hast du seine Klamotten durchsucht? Irgendwelche Anhaltspunkte gefunden?«
»Ja, da war ...« Bob unterbrach abrupt seinen Satz. »Sibel ich muss auflegen, Paul beobachtet mich. Er hat einen merkwürdigen Blick drauf! Mein Gott, sie sind dabei Löwenherz einer Lobotomie zu unterziehen!«
Sibel starrte den Hörer entgeistert an. Das kann nicht sein , flüsterte sie. Mit fliegenden Fingern wählte sie Mikels Nummer.
»Was soll ich nur tun, Mikel?«, stöhnte Sibel, nachdem sie ihn auf den neuesten Stand der Dinge gebracht hatte.
»Du solltest dich krankmelden, Sibel. Das Ganze fühlt sich nicht gut an. Okay? Ich muss jetzt zur Probe und anschließend zum Soundcheck. Sehen wir uns morgen?«
»Ja«, flüstere sie. »Ich komme vorbei.«
2011 - 19.4., 19:00
Großbritannien
London,
Royal Nurse Hospital
Zwei Tage später
Szene 34
Innenaufnahme: Pflegezimmer im Halbdunkel. Paul steht inmitten des Zimmers mit dem Telefonhörer am Ohr und gießt sich mit der freien Hand einen Kaffee ein. Im überquellenden Aschenbecher liegt eine brennende Zigarette.
» Alles planmäßig verlaufen?«
»Alles okay«, antworte Paul. »Habe allerdings keine Ahnung, was diesen Bob umtreibt. Ich glaube, der hat Lunte gerochen.«
»Ist er wichtig? Kann man ihn drehen?«
»Zwei Mal nein!«
»Okay, wir kümmern uns.«
2011 - 19.4., 23:00
Großbritannien
London,
Farringdon Road
Szene 35
Innenaufnahme: Ein in Plüsch gehaltenes Varieté. Caféhaustische eingedeckt mit bordeauxroten Tischdecken und kleinen Gaslampen. Seitlich der kleinen Bühne hängen schwere, rote Samtvorhänge. An der Decke rotiert eine silberne Diskokugel. Die Bar, ebenfalls mit rotem Leder ausgepolstert, ist spärlich beleuchtet.
Nach einer Stunde war der Gig beendet. Es hatten sich ungefähr achtzig Leute an diesem Abend eingefunden. Bedauerlicherweise hatte kein Blatt auf die Veranstaltung 'Lost Children' hingewiesen. Kein Wunder, dass kaum Leute erschienen sind, raunte Steve. Das schummrige Licht wurde nun hoch gedimmt, ein tagheller Spot erleuchtete die Bühne. Die Band räumte ihr Equipment zur Seite, um der folgenden Rednerin Platz zu machen.
Steve:
Als ich sie sah, traf mich der Schlag! Vor mir auf der Bühne, zum Greifen nah, stand eine blondierte Griechin. Als Erstes fielen mir ihre Lippen ins Auge. Wie Julia Roberts, schoss es mir durch den Kopf. Sie lächelte ein wenig unsicher. Ein Lächeln, das von einem zum anderen Ohr reichte. Sie trug einen hellroten Lippenstift. Ihre hellblau-grauen Augen, denen eines Huskys in ihrer Intensität um nichts nachstehend, funkelten in einer Tiefe, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ein Perlmutt schimmernder Lidschatten unterstrich die Intensität ihres Blickes. Die Augenbrauen waren sichelartig gezupft. Sie war nicht groß, vielleicht 1,70. Ihr mediterraner Teint war mit einigen Sommersprossen durchsetzt, die ihr etwas sehr Frisches und Jugendliches verliehen. Doch so ganz taufrisch war sie augenscheinlich nicht mehr. Ich entdeckte die ersten Krähenfüße in ihren Augenwinkeln. Das halblange, blondierte Haar, hatte sie hinter die Ohren gesteckt. Sie trug goldene Blattohrringe. Ich war wie gebannt. Selbst ihr teurer Businessfummel konnte mich nicht abschrecken. Sie trug ein blaues Kostüm, eine weiße Bluse und hautfarbene Nylonstrümpfe. Darunter zeichnete sich eine sehr weibliche Figur ab.
Sie brauchte eine Minute um sich zu sammeln. Dann räusperte sie sich. Sie stellte sich als Adriana vor und nach den üblichen Begrüßungsfloskeln, folgte Klartext:
»Weltweit verschwinden jeden Tag Hunderte von Kindern und tauchen nie wieder auf. Und das ist nicht nur ein Phänomen, das sich auf Kontinente wie Afrika, Asien oder Südamerika beschränkt. Nein, auch bei uns, in der westlichen Welt, verschwinden täglich Kinder. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie das ist.« Ihre Stimme stockte, sie räusperte sich und fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar. »Meine beiden Kinder Damian und Penelope wurden zusammen mit fünfzehn weiteren Kindern vor etwas mehr als drei Monaten aus einem Kindergarten in der Nähe von Thessaloniki entführt. Ich weiß, dass es einigen hier im Saal genauso ergangen ist. Dass sie auf der Suche nach ihren Kindern sind. Zehn Nationalitäten sind heute vertreten – und damit die Sprache kein Verständigungsproblem wird, habe ich Dolmetscher engagiert. Ich möchte ein umfassendes Netzwerk und eine Datenbank aufbauen, damit wir uns organisieren können. Jeder von uns ist verzweifelt, und wenn die Behörden das Problem ignorieren, so müssen wir zur Selbsthilfe übergehen. Dazu ist der Abend gedacht. Abschließend möchte ich mich noch bei der Band bedanken, die auf Bitte unserer Leidensgenossin Barbara, heute Abend ohne Gage aufgetreten ist.«
Im Anschluss fanden sich die Betroffenen zu kleinen Gruppen zusammen und diskutierten engagiert.
Adriana gesellte sich zur Band.
»Noch einmal persönlich, herzlichen Dank!« Ihr Englisch klang gebrochen.
Sie ist voller Tatendrang und voller Stolz, eine Powerfrau, dachte Sibel. Sie beobachtet, wie Steve und Adriana sich die Hände reichten. Hoppla, da funkt‘s aber gewaltig , war ihr erster Gedanke. So hatte sie Steve noch nie erlebt. Er hatte mit einmal diesen unbeholfenen Ausdruck, den sie von Mikel kannte. Doch auch Adriana schien beeindruckt. Sie lächelte von einem Ohr zum anderen und zeigte dabei ihre strahlend weißen Zähne.
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