Er würde der dritte Pächter des Restaurants in dem vor fünf Jahren errichteten Hotel an der Ostsee sein. Der erste hatte der Brauerei eine zu hohe Pacht bewilligt und war darüber zugrunde gegangen. Der zweite war nicht viel klüger. Die mit ihm vereinbarte Festpacht war immer noch ruinös gewesen, und vor allem hatte er zu viel für das Inventar gezahlt. Georg hatte den früheren Pächter besucht, um ihn über das Objekt auszuhorchen. Gegen die unverbindliche Zusage, ihm wenigstens das Hotelsilber zum Originalpreis abzunehmen, hatte er eine Kopie des gekündigten Pachtvertrags und die alten Buchführungsunterlagen erhalten. Die Brauerei, die der bisherige Pächter für sein Scheitern verantwortlich machte, wusste nichts über Georgs Recherchen. Und so konnte Georg seine Verhandlungen mit Kenntnissen führen, die er als naheliegende Schlussfolgerungen ausgab, die aber in Wirklichkeit aus den Büchern seines Vorgängers stammten.
Das Silber kaufte er natürlich nicht zum Neupreis. Die Brauerei pfändete es. Georg übernahm es dann zum gleichen Spottpreis, den die Brauerei in der Versteigerung gezahlt hatte. Die übrigen Gerätschaften bekam er praktisch geschenkt. Es hatte sich gelohnt, ohne Zeitdruck zu verhandeln, und er schwor sich, niemals als erster einen Gastronomiebetrieb anzupachten.
Einmal noch sah er Marie. Sie saß allein in einem Café am Kurfürstendamm. Georg erkannte sie im Vorübergehen und setzte sich unaufgefordert zu ihr. Seine Gegenwart machte sie unsicher. Vielleicht war sie auch ängstlich und fürchtete, er könne sie erpressen oder zu etwas nötigen, das sie nicht bereit war, ihm freiwillig zu geben.
Er beruhigte sie: "Habe ich dich jemals verletzt?"
Sie schüttelte den Kopf, und nach einer Weile kehrte das alte Vertrauen zurück. Sie erzählte ihm von ihrem neuen Leben mit Karlfried, der sie immer noch zu heiraten beabsichtigte.
"Seine Mutter hat ihm ein neues Haus in Dahlem gebaut. Für seine zukünftige Familie. Wir können es natürlich erst beziehen, wenn wir verheiratet sind."
Georg nickte: "Natürlich."
Sie stutzte und sah den gutmütigen Spott in seinen Augen.
"Du glaubst mir nicht. Aber Karlfried meint es wirklich ehrlich. Solange wir noch nicht verheiratet sind, hat er mir eine große Wohnung in einem seiner Häuser eingerichtet. Und er gibt mir Haushaltsgeld wie einer Ehefrau. Und wir kaufen gemeinsam Sachen für mich."
Sie spreizte die Finger, damit er einen blitzenden Ring sehen konnte, dessen funkelnder Stein auch ein Brillant sein konnte. Er hoffte es für sie. Und vor allem hoffte er, dass Karl Friedrich Bollmann – sie hatte ihm eine Visitenkarte gezeigt – keine überhöhte Miete für die Wohnung verlangte, wenn er Marie schließlich fallen ließ.
Er empfand etwas wie Trauer angesichts ihrer offensichtlichen Naivität. Einen beträchtlichen Teil der Ersparnisse, mit denen er seine Zukunft finanzierte, hatte sie für ihn verdient. Und sie trauerte dem Geld nicht nach. Offenbar hielt sie es für gerecht, dass er von ihrer Nachtarbeit profitiert hatte. Sie beschämte ihn; und je mehr sie ihm von ihren kindlichen Hoffnungen und Plänen anvertraute, desto unbehaglicher fühlte er sich. Vielleicht war er doch weniger kaltschnäuzig als er dachte. Jedenfalls verabschiedete er sich bald. Und wieder wunderte er sich, wie ehrlich er jeden guten Wunsch für sie und ihre unerfüllbaren Hoffnungen an die Zukunft meinte. Er hätte sie gern zum Abschied umarmt, um ihr einmal noch wenigstens seine körperliche Wärme zu geben, nach der sie – hin und wieder öfter als ihm lieb war – in naiver Sehnsucht in ihren gemeinsamen Nächten verlangt hatte. Aber er gab ihr nur, ungeschickt und fast verlegen, einen Handkuss auf die nach dem Herzeigen wieder behandschuhten Finger.
Er hörte nie wieder von ihr.
Der alte Mann begleitet Stapelfeld an die Haustür
Das Gespräch mit den Dachdeckern war wie immer verlaufen. Es gibt keine probate Lösung des Problems mit dem faulenden Reet. Alle paar Jahre muss das Dach ausgebessert werden. Die übelriechenden Schilfbündel werden herausgenommen und durch frische ersetzt. Für eine umfassende Erneuerung ist der Schaden zu gering und der Fäulnisgeruch nicht lästig genug. Jedes Mal behält die Sparsamkeit des alten Mannes die Oberhand. Stapelfeld wird wie immer die Arbeiten überwachen und aus alter Verbundenheit nichts dafür berechnen. Nachbarschaft und das Bewusstsein, einstmals Protegé gewesen zu sein, implizieren auch Verpflichtungen.
Der alte Mann pflegt eine antiquierte Grandezza, von der er weiß, dass sie nicht mehr zeitgemäß ist:
"Eine Empfehlung an die Frau Gemahlin", sagt er zum Abschied.
Stapelfeld nickt ihm wortlos zu und verlässt schnellen Schrittes das an der Vorderseite und zu den beiden Nachbarn hin mit weißen Kalksandsteinen ummauerte Grundstück.
Der emporgekommene Gastwirt, wie er von den Honoratioren der Stadt oft genannt wird, sucht nicht die Nähe der Anwohner. Er weiß, dass er nicht dazu gehört, und er macht nach seiner Meinung das Beste daraus, indem er den Verächtlichen spielt. Nur in ganz stillen Stunden fällt ihm dazu die Fabel von dem Fuchs und den Trauben ein. Dennoch: hinter einer Maske aus altväterlichem Charme ist er unfreundlich, arrogant und ohne Scham auf seinen Vorteil bedacht. Etwas anderes hat der eingebildete Haufen stadtbekannter Ehrabschneider nach seiner Meinung nicht verdient.
Aus steuerlichen Gründen hat er vor Jahrzehnten ein paar Sozialbauten gemeinsam mit dem alten Kaffeeröster errichtet. Wahrscheinlich hatte Stapelfeld seinen Schwiegervater zu dem Gemeinschaftsprojekt überredet. Eine Männerfreundschaft oder wenigstens eine Art Vertrauensverhältnis ist aus der Zusammenarbeit nicht entstanden. Nachdem ihnen die Steuervorteile zugeflossen waren, trennten sie sich wieder. Anlässlich der Auflösung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die sie zur Vereinnahmung der Steuerersparnisse gründen mussten, wechselten sie zum letzten Mal ein paar persönliche Worte. Damals schon zwei starrsinnige alte Männer, die einander misstrauten. Insgeheim fühlen sich beide auch heute noch vom jeweils anderen übervorteilt, wenn sie auch trotz vieler schlafloser Stunden nicht wissen, wie es der jeweils andere hätte bewerkstelligen können. Der alte Mann mag die Leute mit dem ererbten Geld nicht. Selten und nur im tiefsten Unterbewusstsein räumt er vage ein unbestimmtes Gefühl von Neid ein. Dann lächelt er selbstquälerisch vor sich hin, um sich im nächsten Augenblick für dergleichen Sentimentalitäten zu verachten.
Er klingelt nach der neuen Haushälterin, die oben in den Schlafzimmern mit ihrem Staubsauger hantiert:
"Ich hätte gern ein süßes Omelette zu Mittag. Und einen Salat. Anschließend fahre ich ins Büro."
Er hat sich nie daran gewöhnen können, die Haushälterinnen bei ihrem Vornamen zu rufen, obgleich es schon bei seinen Eltern Hausmädchen und andere Bedienstete gab. Ihm fehle das natürliche Gefühl für Standesunterschiede, hatte Utas Mutter konstatiert und verständnislos ein Kopfschütteln angedeutet. Aus ihrem Mund klang das ganz natürlich. Aber in seiner Vorstellung lebte sie mit ihren Wertvorstellungen in einer Welt von gestern; und gleichzeitig beneidete er sie um ihre Vergangenheit, an deren Maßstäben sie unverkrampft festhielt.
Als Uta noch lebte, hatte sie den Hausangestellten verboten, ihm sein geliebtes süßes Fett jemals zu servieren; so nannte sie die mit Konfitüre oder mit Zimt und Zucker gefüllten dünnen Omelettes, nach deren Qualität er die Fähigkeiten der Küchenchefs seiner Restaurants beurteilte.
Zu Hause fügte er sich spöttisch lächelnd Utas Willen – vor allem um die Angestellten nicht in Verlegenheit zu bringen. Aber wenn er mittags im Büro aß, hielt er sich ohne Skrupel schadlos. Da ließ er sich zum Zucker oft noch zusätzlich süßen Sirup servieren. Infarktgefährdet war er nach seiner Meinung trotzdem nicht. Er besaß von jeher die Fähigkeit, wie auf Kommando allen Alltagsstress von sich abfallen zu lassen.
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