Die ersten Tränen laufen geräuschlos über Sams Wangen. Ein besseres Zeichen, dass Sam die Tragweite dieser OP wahrgenommen hat, gibt es nicht.
»Wir haben uns gestritten, Laura. Wir haben uns gestritten. Wenn sie jetzt stirbt, dann ist mein wütendes Gesicht das letzte was sie von mir gesehen hat.« Weinend wechselt sie ihren Blick zwischen Laura und Jessica hin und her. Wortlos bittet sie die beiden, dass sie sich niemals streiten sollen. Dass sie niemals in einem Streit auseinandergehen sollen. Eigentlich ist dies eine Selbstverständlichkeit, selbst für Sam und Neve. Dennoch haben sie sich gestritten und konnten das nicht klären, bevor Neve zusammengebrochen ist.
***
»Was stand denn in der Patientenverfügung?«, flüstert Laura leise, nur um Sam nicht zu erschrecken, die wie zerflossen in ihren schützenden Armen liegt. Seit Stunden sitzen die drei Frauen im Wartebereich dieser Etage und hoffen auf gute Nachrichten.
»Das wollt ihr nicht wissen«, murmelt Jessica in ihren Kaffeebecher. Sam schreckt auf. Fassungslos schaut sie ihre Freundin an. Die nimmt ihren Blick vom Kaffee, sieht Sam flüchtig an und taucht dann wieder in die unendlichen Tiefen des Koffeins ein.
»Das ist nicht wahr«, flüstert Sam entsetzt.
»Jessica, sag mir, dass das nicht wahr ist.« Nur um nicht antworten zu müssen, trinkt Jessica einen großen Schluck Kaffee. Sie trinkt bis der Kaffee auf ist. Skeptisch blickt sie danach in den leeren Becher. Irgendwo muss da doch noch etwas von dem Gesöff drin sein.
»Jessica!« Sams Stimme wird schärfer und fordernder. Unterlegen schnauft Jessica aus. Mit geschlossenen Augen lässt sie den Kopf hängen.
»Neve gab an, dass sie keine lebenserhaltenden Maßnahmen will.« Jetzt ist es raus. War doch gar nicht so schwer. Nein, nur unbeschreiblich schmerzhaft.
Mit einem Mal springt Sam vom Stuhl auf.
»Diese blöde Kuh«, brüllt sie wütend.
»Ich bringe sie um, wenn sie das überlebt. Ich drehe ihr den Hals um. Ich … ich … .«
»Jess, was hast du getan?« Abrupt verstummt Sam als Laura ihrer Frau diese Frage stellt.
Fast entsetzt blickt die ältere Frau zwischen ihren Freundinnen hin und her.
»Ihr glaubt doch nicht etwa, dass Neves Verfügung den Ärzten da drinnen vorliegt, oder? Nein, ich habe das Ding natürlich gefälscht, was anderes blieb mir doch gar nicht übrig.« Ihren Blick richtet sie auf Sam. Sie weiß, dass ihre Freundin sie umgebracht hätte, wäre sie mit dem Original im Krankenhaus aufgeschlagen.
»Das ist doch aber gar nicht möglich. Wie hast du das angestellt?« Überrascht schaut Laura ihre Frau an. Jessica richtet sich auf. Mit einem Mal wird sie blass.
»Oh. Vor lauter Sorgen habe ich doch glatt etwas vergessen«, nuschelt sie und steht vom Platz auf.
»Bin gleich wieder da. Ich muss mich eben übergeben gehen.« Kaum schreitet Jessica an ihrer Frau vorbei, schaut die ihr entsetzt hinterher. Angewidert schluckt sie laut.
»Fuck.« Sie weiß grad selbst nicht ob sie kotzen muss, oder nicht.
Sam starrt ihre Freundin geschockt an. Sie hat Jessica einiges zugetraut, aber nicht das. Nicht, dass sie über ihren eigenen Schatten springt und das für ihre Freundin auf sich nimmt.
»Danke«, haucht Sam leise. Perplex schaut Laura sie an.
»Sag das nicht mir, sag das ihr«, stammelt sie und zeigt blind den Flur hinunter.
Wenige Minuten später plumpst Jessica in den Stuhl zurück. Erleichtert atmet sie aus, wird von Laura allerdings leicht angewidert angesehen. Als sie ihre Frau darauf ansprechen will, öffnen sich im selben Augenblick die Flügeltüren und der weiße Gott tritt heraus. Sofort ist Sam bei ihm. Sie ist sich nicht ganz sicher ob sie hören will was er zu sagen hat. Er sieht zu erschöpft und zu niedergeschlagen aus, als dass er mit guten Nachrichten kommen könnte.
»Misses Stewart-Sanchez, wir konnten den Stent erfolgreich entfernen, aber … .« Schon bei diesem einen Wort beginnt Sams Kreislauf durchzudrehen. Schwindel setzt ein, Übelkeit und Angst bauen sich langsam auf. Jessica haucht ein geschocktes »Nicht«, während Laura hörbar laut Luft holt.
»Aber wir werden Ihre Frau auf eine Spenderliste setzen müssen. Sie benötigt ein neues Herz. Alle unsere Versuche das Herz nach dem Einsetzen wieder zum Schlagen zu animieren, waren erfolglos. Auf Grund ihrer Vorgeschichte und ihrem geschwächten körperlichen Zustand, fehlt dem Herzen die nötige Kraft, um seine Arbeit aufnehmen zu können.« Nervös blickt der Arzt zwischen den Frauen hin und her, verweilt dann aber bei Sam.
»Wir haben sie in ein künstliches Koma versetzt und an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Alle Funktionen die eigentlich ihr Herz ausübt, übernimmt nun die Maschine für sie. So lange bis ein passendes Spenderherz eingetroffen ist. Wann das allerdings sein wird, kann ich ihnen leider nicht sagen.«
***
Zitternd blickt Sam durch die großzügige Fensterscheibe. Tränen erschweren eine klare Sicht auf ihre Frau. Dennoch kann sie all die Maschinen und andere Gegenstände um das Bett herum wahrnehmen. Es ist, als wenn sie in die Zeit zurückkatapultiert worden wäre. Zu der Zeit, als sie an Neves Bett wachte und darum bat, dass ihre Frau nach der Stromattacke wieder aufwacht.
Jetzt allerdings, befinden sich Maschinen um Neves Bett, die sie nicht kennt - die einer ganz anderen Funktion nachgehen. Maschinen die Neves Organe dazu animieren normal zu arbeiten – sie künstlich am Leben zu erhalten. Eine Herz-Lungen-Maschine die Neve am Leben hält.
Als wenn sie keinen Bock hätte ihren alten Cellulitis-Arsch zu bewegen und sich mit einem Nickerchen vor der Hausarbeit drückt, liegt Neve im Bett und stört sich nicht daran, dass unzählige Nadeln und Kanülen in ihren Körper gebohrt wurden, nur um deren Arbeit nachzugehen. Sie ist noch blasser als zuvor. Ihre Haut wirkt irgendwie bläulich. Ein Anblick den man niemandem wünscht.
Sam spürt, wie sich dieses Bild in ihr Gedächtnis brennt. Sie weiß, dass sie dieses niemals wieder vergessen wird.
»Warum?«, haucht sie leise.
»Warum Neve? Warum liegt sie schon wieder dort? Warum passiert das alles? Warum können wir nicht einfach in Ruhe leben?« Lauras Hand wandert beruhigend Sams Rücken rauf und runter. Erschöpft lehnt Sam die Stirn gegen die Scheibe. Ihre Augen liegen unermüdlich auf ihrer Frau.
»Sie ist tot, Laura. Neve - meine Frau liegt dort im Bett und ist tot.«
»Nein Sam, so darfst du das nicht sehen.«
»Doch, so sehe ich es aber. Genau so sehe ich es.« Mit aller Kraft die Sam noch aufbringen kann, richtet sie sich wieder auf.
»Ihr Herz hat in dem Moment aufgehört zu schlagen, als die Ärzte es aus ihrem Körper nahmen und hat danach nicht wieder angefangen. Das da …«, eine fast abwertende Kinnbewegung ins Zimmer folgt »ist nur die Arbeit von Maschinen. Nicht Neves Herz schlägt, sondern eine Maschine. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie wirklich sterben wollte. Dass sie tatsächlich die lebenserhaltenden Maßnahmen verweigerte. Wie konnte sie das nur tun? Hat sie überhaupt nachgedacht? Hat sie auch nur eine Sekunde an die Kinder oder mich gedacht?«
»Sam.« Laura greift nach dem Gesicht ihrer Freundin und dreht es zu sich. Noch nie hat sie solch eine Erschöpfung in Sams Augen gesehen. So vieles ist schon passiert, aber nichts davon hat Sam je so sehr mitgenommen, wie die Tatsache, dass Neve dort in diesem Zimmer liegt.
»Sam, du kennst Neve. Du weißt ganz genau weshalb sie nach Hunters Point abgehauen ist. Und du weißt auch, weshalb sie sich gegen diese Maßnahmen entschied. Sie will einfach nicht, dass du leidest. Dass du … .«
»Verdammt Laura.« Sams Stimme wird aufbrausend.
»Neve und ich haben das schon tausend Mal durchgekaut. Ich habe ihr gesagt, dass … .«
»Und dennoch war es ihr Wunsch«, bremst Laura ihre Freundin ab.
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