„Naivität?! Haltet ihr mich für dumm?!“
„Nein Hannah, natürlich nicht. Naivität kannst du nicht mit Dummheit gleichsetzen – zumindest nicht im Archetyp. Naivität bedeutet vielmehr Unwissenheit im besten Sinne. Es ist eine Unwissenheit, die sich in Unschuld widerspiegelt, verstehst du?“
„Das soll ich dir glauben Linda?“
„Ja, das kannst du ruhig. Schau mal zu Upper und Tomasin rüber. Die nicken beide zustimmend.“
„Na gut Linda, aber trotzdem behagt mir der Begriff `Naivität` überhaupt nicht. Ich muss es wohl akzeptieren. Linda erzähl mir bitte was über die anderen beiden Archetypen, die du genannt hattest.“
„Da ist noch die Heilsbringerin als weiterer Archetyp zu nennen. Die Heilsbringerin ist in ihrer Mitte und im Frieden. Sie vermittelt Wert und Selbstwert. Sie birgt die Erfahrung von Einheit und Eins-Sein in sich.“
„Aha. Damit kann ich zwar nicht viel anfangen, aber es hört sich gut an. Mach bitte weiter.“
„Und dann ist da noch die Großherzige. Sie ist großzügig, freundlich und gütig.“
„Ja, das kann ich so für mich annehmen, Linda. Wie steht´s nun mit meinen Schatten?“
„Zu denen komme ich jetzt Hannah. Da waren die Aspekte der Vernichterin, des Schergen und der Dirne mit dir auf der Erde. Die Vernichterin ist rücksichtslos und destruktiv. Sie verwüstet und vernichtet jeden und alles, was sich ihr in den Weg stellt. Sie ist der große Spaßverderber im Leben. Das kann ich nur bestätigen“, sagte Linda verbittert. „Wenn ich einmal Spaß hatte, hast du ihn mir immer gründlich verdorben. Kam ich spät in der Nacht von einer Party nach Hause, standst du regelmäßig wie ein Racheengel oben auf der Treppe zu meinem Zimmer und straftest mich mit vorwurfvollen Blicken. Dann machtest du mir noch ein schlechtes Gewissen indem du mich fragtest: `Weißt du eigentlich wie spät es ist`? Verkauft hast du mir das immer als Sorge um mich. Pah, wer´s glaubt! Egal, es ist vorbei! Ich mach besser weiter, bevor ich meiner Wut wieder nachgebe. Der Scherge verursacht bei anderen Angst und Schrecken. Er tut das um zu dominieren und zu bestrafen. Er versteckt damit seine eigene Angst oder seine Minderwertigkeitsgefühle. Der Scherge quält andere auf physische, emotionale oder mentale Weise. Das bereitet ihm großen Spaß. Auch das kann ich leider bestätigen. Wenn ich es nicht genau wüsste, würde ich behaupten, die Stasi hatte ihre Überwachungs- und Reglementierungsmethoden von Hannah abgeguckt. Lassen wir das, sonst…! Zum guten Schluss ist da noch die Dirne. Im Aspekt der Dirne verbirgt sich der Verlust sexueller Integrität. Sie verkauft sich für Geld, um ihre materielle Gier zu befriedigen.“
„Da hört sich doch wohl alles auf! Du nennst mich eine Nutte?“
„Nee, das tu ich nicht! Da gibt es einen feinen Unterschied. Es gibt natürlich die Dirne. Sie macht ihren, wie ich persönlich meine, wichtigen Job und bekommt selbstverständlich gutes Geld für ihre Dienste. Es gibt aber auch, und hier liegt der Unterschied Hannah, den Aspekt der Dirne im Schatten eines Seins. Genau diesen Aspekt hat Tomasin dir gegeben. Versteh mich nicht falsch Hannah, niemand hat dich auf der Erde als Nutte angesehen. Ganz im Gegenteil sogar. Du warst immer eine integre, geschätzte Frau.“
„Das will ich wohl meinen!“
Heinrich war anderer Meinung. „Da habt ihr euch aber die perfekte Paarung ausgedacht. Respekt Upper, Respekt Tomasin“, applaudierte Heinrich hämisch. „Die Dirne kam mir gut zu Pass. Ich wusste, sie brauchte Geld für ihre Familie. Mein Sohn Erhard, diese Nulpe hat ja nichts auf die Reihe gekriegt. Das Geld, das er verdiente, langte hinten und vorne nicht, um die Mäuler zu Hause zu stopfen. Ich jedenfalls hatte ein gutes Sümmchen in Petto. Warum also sollte Hannah sich nicht was nebenbei verdienen? Sie hatte alle Voraussetzungen von hier mitgebracht. Das hat Linda gerade selber gesagt. Was lag da näher, als bei mir das nötige Geld zu verdienen? Es blieb ja in der Familie. Was daran sollte also verwerflich sein?“
„Du dreckiger Schmutzbuckel!“, platzte es aus Linda heraus. Nicht nur mich, sondern auch Hannah?! Du fieses Miststück! Du Kretin!“ Linda kam wieder in Rage.
„Linda, zügle dich!“, mahnte Upper.
„Nun gut“, sagte Linda „ich gebe zu, es war tatsächlich eine passende Kombination zwischen Hannah und mir. Der Kraftstrotzende stand dem Zerstörer gegenüber, also konstruktive Kraft gegen destruktive Kraft. Die gute Fee dem Schergen, also Wohlwollen und Güte gegen Dominanz und Strafe und die hilfreiche Gönnerin der Dirne, also ausgewogenes Geben und Nehmen gegen Befriedigung der Gier. Somit sah ich mich mit meinem negativen Gegenpol konfrontiert. Ich nahm den Kampf auf – und gewann ihn dank Fridolins Hilfe. Ich denke, ohne seine Gabe an Quod wäre mir das nicht gelungen. Danke mein Freund.“
Auch Hannah und Erhard bedankten sich artig bei Fridolin. Sie sahen jetzt ein, dass Linda es ohne seine Hilfe nicht überlebt hätte.
„Wieso hast du dich überhaupt darauf eingelassen, mein Freund?“, fragte Linda Fridolin mit fragenden großen Augen. Sie konnte immer noch nicht glauben, was Upper und Tomasin mit ihr und Hannah gemacht hatten. Besonders irritierte Linda der Umstand, dass ihr Vertrauter, ihr Begleiter Fridolin mit von der Partie war.
„Zum einen, weil Upper mich beauftragt hatte“, antwortete er. Und zum anderen, weil ich da noch eine Schuld begleichen musste.“ Es war Fridolin sichtlich peinlich sich zu offenbaren. Doch er musste es tun. Das war er Linda schuldig. Sie hatte immerzu so tapfer gekämpft und war so oft schändlich hintergangen worden, da musste er alles offenlegen. Linda sollte nun, zum guten Schluss, auch die Hintergründe erfahren, die zu ihrem schwierigen Start in ihr Leben auf der Erde geführt hatten.
„Fridolin, du musstest eine Schuld begleichen? Das glaube ich dir nicht! Du bist der zuverlässigste, ehrlichste, verlässlichste, integerste Typ, dem ich je begegnet bin.“
„Danke Linda für dein Vertrauen. Aber leider muss ich dich enttäuschen. Mir ist da mal ein Fehler unterlaufen. Ich hab´ mal nicht richtig aufgepasst und mich überrumpeln lassen.“ Fridolin stand zerknirscht da.
„Was ist passiert Fridolin?“ In solch desolatem Gemütszustand hatte sie ihren Vertrauten noch nie gesehen. In der Tat war das noch nie vorgekommen.
„Weißt du Linda, da war die Sache mit Dorian Gray. Ich kann dir nicht einmal sagen, wie es dazu kam, aber er rang mir die ewige Jugend ab und stoppte damit das Sterben seiner Schönheit.“
„Was, der Kerl lebte wirklich?“ Kanep war fasziniert. „Weißt du noch Linda, damals in unserer Jugend hatten wir das Buch gelesen – Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde. Das war doch nur ein Roman! Und jetzt
kommst du Fridolin und willst uns erzählen, den gab es wirklich?“
„So ist es, Kanep. Oscar Wilde hat daraus eine Geschichte gemacht.“
„Wie bitteschön, soll er denn an die Info gekommen sein?“
„Das war Tomasins Idee. Tomasin hatte mitbekommen, was ich gemacht hatte. Er kam zu mir und sagte, es wäre besser, wenn Upper nichts davon erfahren würde. Er mutmaßte, Upper würde bestimmt sehr zornig werden und das könnte schwerwiegende Folgen für alle Forschungs-Seins auf der Erde haben. Nun ja, Tomasin überzeugte mich. Wir schmiedeten einen Plan. Tomasin sollte Grays Schatten viel Bedeutung geben. Die Dekadenz und die Abgründe der Gesellschaft sollten dadurch präsent werden. Indem Gray dann mit seinem Schatten konfrontiert werden würde, würde Fridolins Gabe der ewigen Jugend irgendwann hinfällig werden. Nun musste die Sache nur noch vor Upper vertuscht werden. Deshalb gab Tomasin den Vorfall ins Wissende Feld. So kam es, dass der Schriftsteller Oscar Wilde, der gerade auf der Suche nach einem Stoff für eine neue Geschichte war, an die Info kam und inspiriert wurde. Fortan gehörte der Fall Dorian Gray der Welt der Literatur an. C´est ca! Da Tomasin mir aus der Klemme geholfen hatte, hatte er eben noch was gut bei mir. So einfach ist das.“
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