„Das hast du gut beobachtet Linda. So war das“, bestätigte Fridolin. „Ich war die ganze Zeit über bei dir und konnte alles gut beobachten.“
„Ach so? Und warum hast du mir nicht aus meiner misslichen Lage herausgeholfen, hmm?!“
„Das kann ich dir sagen Linda: Ich durfte nicht. Das überschritt meine Kompetenzen. Ich darf nur eingreifen, wenn es an der Zeit ist nach Hause zu gehen. Und das war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt. Ich kannte deinen Zeitplan, meine Liebe. Ich hatte dir ausreichend Quod gegeben, damit du die Zeit überstehst bis du soweit bist das Licht der Welt zu erblicken. Zugegeben, es war etwas früh, genau gesagt fünf Wochen zu früh, aber auch das gehörte zum Plan. Weißt du nicht mehr? Wir hatten uns doch über deine Reiseausrüstung unterhalten. Als du dich entschlossen hattest den Rest deiner Zeit in Hannahs Bauch an der Wand zu kauern, fragte ich dich noch mal nach deinem Equipment, bevor ich mich wieder in den Hintergrund begeben musste. Da sagtest du mir, du hättest alles dabei, außer deinem Schatten. Das hätte Tomasin dir geraten. Ich riet dir allerdings, deinen Schatten nachträglich zu bestellen. Du wolltest es dir überlegen. Damit ließ ich es bewenden. Ich verabschiedete mich von dir mit den Worten: ´Linda, wo das Leben ist, wird auch immer der Tod sein. Ich bin bei dir´. Du solltest wissen, dass dir nichts Schlimmes passieren könnte, denn ich war ja da – immer in deiner Nähe. Doch nun drängte die Zeit – du musstest dich entscheiden: wolltest du jetzt deinen Schatten oder nicht? Die Frist für die Nachsendung lief ab. Bei Antritt deines nächsten Reiseabschnitts fragte ich dich nochmals nach deiner Entscheidung. Du sagtest mir: ´Ja, ich möchte meinen Schatten dabei haben`. Das war zwar ziemlich spät, aber ich schickte sofort eine Eilbestellung zu Upper. Das war auch in letzter Sekunde, denn du warst schon beinahe auf der Welt. Nun ja, es hat noch geklappt. Neun Monate später traf Kanep mit deinem Schatten im Gepäck ein.“
„Puh, das war ja gerade noch mal gut gegangen. Beim nächsten Mal bitte ich um etwas mehr Vorbereitungszeit.“ Fridolin war bei der Erinnerung daran der Stress und die Hektik immer noch anzumerken. „Wie ging´s denn weiter Linda?“
„Das Tor öffnete sich immer weiter. Gleichzeitig spürte ich, wie sich meine Behausung in kurzen Abständen zusammenzog und sich wieder entspannte. Bei jedem Zusammenziehen wurde ich mit meinem Kopf feste gegen die Öffnung gedrückt. Das Tor öffnete sich mehr und mehr, die Kontraktionen wurden stärker und kamen in immer kürzeren Abständen. Bei der nächsten starken Verkrampfung verlor ich den Halt. Das Tor war nun so weit geöffnet, dass mein Kopf in einen elastischen Gang rutschte. Die darauffolgende Kontraktion quetschte derbe meinen Körper zusammen. Ich rutschte weiter. Meine Schultern hatten das Tor passiert. Dann steckte ich fest. Nichts bewegte sich mehr. Jegliche Aktivität war erloschen. Von außen drang aufgeregtes Stimmengewirr an mich heran. Ich hörte einen Mann sagen: ´Wir müssen sie zurückholen`. Mich ergriff Panik. Da war was nicht in Ordnung! Außerdem hatte ich das unglaubliche Verlangen, zu atmen. Das klappte aber nicht, weil meine Nase und mein Mund voller Wasser und Glibber waren. Außerdem drückte der enge Gang, in dem ich festsaß, meinen Körper zusammen, so dass ich mit meinen Schultern und Armen meinen eigenen Brustkorb zusammendrückte. Jeder Versuch zu atmen war zum Scheitern verurteilt. Ich versuchte mich aus meiner misslichen Lage zu befreien. In der Hoffnung mich befreien zu können, drehte ich meinen Körper so gut es ging mal nach links und bald nach rechts. Es gelang mir nicht wirklich. Dann zog ich meine Arme noch mehr vor meine Brust und versuchte mich nach vorne zu robben. Der Druck auf meinen Brustkorb, der mich noch mehr am Atmen hinderte wurde unerträglich. Doch so sehr ich auch kämpfte – meine Anstrengungen führten nicht zum Erfolg. Ich steckte fest. Von Hannah war keinerlei Hilfe zu erwarten. Nichts regte sich bei ihr. Selbst ihr Herz hatte aufgehört zu pochen. Ein letztes Mal versuchte ich mit aller Kraft die Pforte zu passieren – dann verlor auch ich das Bewusstsein. Es wurde auch in mir ganz still.“
„Totenstill? Fridolin?! Was hast du gemacht?!“ Erhard starrte Fridolin durchdringend an. „Die beiden wären beinahe gestorben – oder waren sie sogar tot?“
„Nun reg dich mal nicht so auf, Erhard. Ist doch alles gut gegangen.“ Upper versuchte Erhard zu beruhigen. „Fridolin hatte alles unter Kontrolle. Und es gab da ja auch noch die Extraration Quod, womit die beiden wieder ins Leben kamen.
„Geht´s noch Upper?! Was hat sich Fridolin dabei gedacht?“
„Um ehrlich zu sein, war das auf meinem Mist gewachsen“, gab Upper zu. „Ich wollte Lindas Archetyp testen. Ich musste wissen, ob der Aspekt des Kraftstrotzenden für Lindas Auftrag ausreichen würde. Deshalb schickte ich sie an die Grenze ihrer Kraft. Wie sich zeigte, war das auch gut so, denn nur so konnte ich mit ausreichend Quod für ihre Sicherheit sorgen. Ich wies Fridolin an, jederzeit genug davon bereitzuhalten, wenn Linda es benötigen würde.“
„Und warum musste meine Hannah darunter leiden? Kannst du dir vorstellen, wie das für mich war? Meine Liebe, mein Leben wolltest du mir nehmen, du Schuft. Ich hätte alleine dagestanden mit meinen zwei Kindern. Du bist ja wohl nicht ganz dicht!“
„Na, na, jetzt übertreibst du aber. Zügele dich, Erhard! Wie sprichst du mit mir?! Ich bin Upper, das Überwesen des Lebens. Vergiss das nicht, mein Lieber!“ Es donnerte wieder und polterte, als würde ein ganzes Bergmassiv einstürzen.
„Oh großer Upper, bitte entschuldige. Ich wollte dich nicht beleidigen.
Die Angst um meine Hannah stieg wieder in mir hoch und ängstigte mich so
sehr wie damals.“ Demütig verneigte sich Erhard vor Upper. Er wusste aus seiner Glaubenserziehung, dass man Upper gegenüber respektvoll und ängstlich sein sollte.
„Ich werde noch einmal darüber hinwegsehen Erhard. Deine große Liebe und Sorge um Hannah ehrt dich sehr. Ich will also mal nicht so sein und von einer Buße absehen. Aber das mir das nicht wieder vorkommt – hörst du?“ Upper sprach eindringlich und streng mit Erhard.
„Upper, ich verspreche es dir. Es wird nicht wieder vorkommen.“
„Upper weiß schon was er macht“, merkte Tomasin an. „Der Test war wirklich wichtig. Er wollte kein weiteres Risiko eingehen.“
„Kein weiteres Risiko? Was soll das denn heißen, Tomasin? Gab es so was denn schon einmal?“
„Ähem, ja“, gab Tomasin verlegen zu. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er gerade im Begriff war, etwas auszuplaudern, was er unter keinen Umständen sagen sollte. Upper schaute missbilligend zu Tomasin hinüber. Schnell versuchte er die Situation zu retten: „Ja, es ist aber schon sehr, sehr lange her. Das hat nichts mit Linda zu tun. Da braucht ihr euch gar nicht weiter drum zu kümmern – das ist lange vorbei.“ Um weiter vom Thema abzulenken ging Tomasin auf Erhards Frage ein: „Du willst wissen, warum deine Hannah darunter leiden musste? Das kann ich dir sagen Erhard: Ohne ihr Dazutun wäre Linda erst gar nicht in diesen Test gelangt. Hannah musste zwangsläufig mitmachen. Außerdem interessierte mich, wie Lindas Archetyp und Hannahs Schatten miteinander agieren würden. Als Mutter und Tochter sollten sie auf der Erde für viele Jahre eng miteinander verbunden sein.“
Hannah wurde neugierig. „Welchen Schatten, beziehungsweise Archetyp hatte ich denn damals?“
„Ich verrate es dir“, sagte Linda. „Ich denke, du hast ein Recht darauf es zu erfahren. Upper und Tomasin haben mir das Wissen darüber übermittelt, sodass ich es preisgeben darf. “ Linda begann über Hannahs Archetyp zu sprechen. Sie wollte ihre Mutter schonen. Zu ihr spürte sie immer noch eine liebevolle Verbindung. „Die Aspekte deines Archetyps waren: Die Unschuldige, die Heilsbringerin und die Großherzige. Mit der Unschuldigen waren Naivität und Schönheit in dir.“
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