Der Polizeiinspektor sieht den Gefangenen lange an. Dabei wiegt er den weißen, runden Kopf hin und her und schaut in eine Ecke, wo nichts ist wie ein Schrank mit Akten. „Wieder“, sagt er bedauernd. „Wieder.“ Er wiegt den Kopf hin und her. „Ein Jammer ist das.“
Kufalt steht vor ihm und wartet, worauf das Theater hinaus soll. Denn daß der Polizeiinspektor über irgend etwas, was einen Gefangenen angeht, Bedauern empfinden könnte, übersteigt seine Glaubenskraft.
Hinter Kufalt steht in dienstlicher Haltung der vorführende Wachtmeister. Eine Uhr an der Wand, geschmückt mit Eichenlaub, Schwertern und Adler, tickt sehr vernehmlich die Zeit fort. Der Polizeiinspektor lenkt seinen Blick auf den Gefangenen zurück. „Und was sollen wir tun?“
„Mir eine vorschriftsmäßige Bescheinigung geben.“
„Ja, natürlich!“ sagt der Inspektor freudig. „Ja, natürlich!“ Er verfällt erneut in Bedauern: „Nur ...“ ganz leise und vertraulich: „... es gibt Hindernisse.“
Er lehnt sich in seinen Schreitischsessel zurück und sagt: „Es gibt Bestimmungen zweierlei: durchführbare – undurchführbare. Ich will nichts gegen diese Bestimmung sagen, im Gegenteil, sie ist sozial, sie ist human, sie entspricht dem Geiste heutiger Volksvertretung, nur – durchführbar ist sie nicht. Überlegen Sie sich, Kufalt, ich spreche jetzt nicht zu Ihnen als zu einem Gefangenen, ich spreche zu Ihnen als zu einem Menschen von Verstand und Bildung.“
Der Inspektor hält inne. Er sieht Kufalt müde an. Er sagt langsam und sanft: „Das Zentralgefängnis liegt in einer Stadt. Diese Stadt hat ein Meldebüro. Dieses Meldebüro hat eine Einwohnerkartei. Wir lassen uns, nach dem Buchstaben Ihrer Bestimmung, eine Anzahl Meldeformulare geben. Wir füllen sie aus, wir wollen sie den Entlassenen geben und – und –“
Wieder schaut der Polizeiinspektor in die Ecke. Kufalt wartet geduldig, er hat sich beruhigt, sein Plan ist fertig. Laß den reden, er kriegt seine Abmeldung schon.
„... Und“, sagt der Polizeiinspektor, „der Gefangene weist die Abmeldung zurück. Sie lächeln, Kufalt“ (er denkt nicht daran), „Sie glauben mir nicht. Und doch weist der Gefangene die Abmeldung zurück. Sie sind mir nicht gefolgt. Was fehlt der Abmeldung? Der Stempel fehlt! Denn was können wir tun? Entweder drücken wir den Stempel vom Zentralgefängnis darauf, dann ist der Bestimmung nicht Genüge getan, oder wir lassen sie ungestempelt, dann ist die Abmeldung ungültig.“
„Und als drittes besorgen Sie sich einen Stempel des städtischen Meldeamts.“
„Kufalt! Kufalt! Sie, ein Mann von Verstand und Bildung! Wir sind ein Zentralgefängnis, wie können wir einen Meldeamtsstempel führen? Nein“, ganz traurig, „diese Bestimmung ist nicht durchführbar, so ideal und sozial sie scheint. – Sie sehen es ein?“
„Ich bitte um eine Abmeldung nach Vorschrift der Strafvollzugsordnung.“
„Ich täte es gerne, Kufalt, so gerne! Es ist un–mög–lich! Wachtmeister, führen Sie den Mann nach erteilter Belehrung ...“
„Wenn ich eine Abmeldung mit dem Stempel des Zentralgefängnisses bekomme, so schicke ich sie an meinem Entlassungstage an den Rechtsausschuß beim Landtage unter Wiederholung der mir erteilten Belehrung ...“
Stille.
„Natürlich“, sagt der Polizeiinspektor, aber nicht mehr sanft, sondern mit einer scharfen, kratzigen Stimme. „Na–tür–lich! Mit dem Kopf durch die Wand. Ich habe es nie anders von Ihnen erwartet. Es ist unklug, Kufalt, Sie denken jetzt nur daran, daß Sie entlassen werden, Sie denken nicht daran, daß Sie auch einmal wieder ...“
Er bricht ab. Und Kufalt fragt: „Was einmal wieder? Bitte, Herr Inspektor?“
„Es ist schon gut. Wachtmeister, führen Sie den Mann ab. Sagen Sie, daß eine Abmeldebescheinigung für ihn vom Einwohnermeldeamt geholt werden muß.“
„Ich danke auch schön, Herr Polizeiinspektor.“
Herr Polizeiinspektor hustet gerade, er kann nicht antworten.
Kufalt steht wieder auf der Abfertigung. Der Wachtmeister hat seine Meldung gemacht. Die anderen Abgänge sind schon fort, erledigt.
Nun sagt der Inspektor: „Ihre Strafzeit ist um 13 Uhr 20 vorbei.“
Worauf Kufalt antwortet: „Ich bitte, wie üblich, morgens entlassen zu werden.“
Der Inspektor sagt grob: „Was heißt wie üblich? Sie kennen doch die Strafvollzugsordnung so gut! Die Gefangenen sind so zu entlassen, daß sie noch am Entlassungstage ihren Bestimmungsort erreichen. Sie wollen nach Hamburg entlassen werden. Sie haben also am Nachmittag überreichlich Zeit, Ihren Bestimmungsort zu erreichen.“
Kufalt sagt: „Aber sämtliche Gefangene werden morgens um sieben Uhr entlassen.“
„Das überlassen Sie uns. Wir riskieren womöglich noch eine Beschwerde, wenn wir Ihnen was von Ihrer Haftzeit rauben.“
Kufalt steht und schweigt. Nun natürlich, er kann froh sein, wenn es damit noch abgeht. Es gibt viele Möglichkeiten, einem Gefangenen vierundzwanzig Stunden zur Hölle zu machen.
Der Inspektor fängt neu an: „Ihre Arbeitsbelohnung beträgt 315 Mark 87 Pfennige.“
Kufalt sagt: „Darf ich einmal die Abrechnung sehen?“
„Ellmers, geben Sie dem Herrn Kufalt seine Abrechnung zur Prüfung und Genehmigung.“
Kufalt sieht die Abrechnung an. Ihn interessiert nur die letzte Pensumzahl, und siehe, es sind doch nur sechzehn Pensum angeschrieben, nicht siebzehn!
Er überlegt, ob er wieder meckern soll, aber er besinnt sich und schweigt.
„Ich bitte, daß ich mir heute noch von meiner Arbeitsbelohnung ein Paar Schuhe kaufen darf. Meine alten Zivilschuhe sind mir durch das Pantoffellaufen zu eng geworden.“
„Abgelehnt“, sagt der Inspektor. „Ich werde den Hausvater anweisen, daß er Ihnen ein Paar alte Arbeitsstiefel von den Außenarbeitern gibt. Die tun vollkommen Dienst für Sie.“
„Aber ich kann nicht ...“
„Sie werden können müssen, Kufalt ... Für Reisegeld bis Hamburg brauchen Sie fünf Mark, für die erste Woche zu leben zehn Mark. Ihnen werden also bei der Entlassung fünfzehn Mark siebenundachtzig ausbezahlt, der Rest wird an das Wohlfahrtsamt überwiesen.“
„Herr Direktor hat aber ...“ Kufalt überlegt.
„Nun, was hat Herr Direktor ...? Quatschen Sie sich rein aus, Kufalt. Ich habe heute nichts weiter mehr vor, als Sie abzufertigen.“
„Herr Direktor hat verfügt, daß mir meine Arbeitsbelohnung bei der Entlassung voll ausbezahlt wird.“
„Ach nee? Und warum weiß ich nichts von der Verfügung?“
„Herr Direktor hat es heute früh genehmigt“, beharrt Kufalt.
„Sie lügen, Kufalt. Herr Direktor kann das gar nicht verfügt haben, das widerspricht allen Anordnungen des Strafvollzugsamtes. Damit das Geld in einer Woche alle ist, und wir Steuerzahler dürfen Sie ernähren? Das möchten Sie!“
„Herr Direktor hat es verfügt.“
„Dann müßte es in Ihren Akten stehen. Da steht nichts.“
„Ich verlange mein Geld voll ausbezahlt!“
„Jawohl. Fünfzehn Mark siebenundachtzig. Unterschreiben Sie jetzt, daß Sie die Abrechnung anerkennen.“
„Ich bitte um Vorführung bei ...“
Kufalt hat eine Erleuchtung: „Bei Herrn Pastor!“
„Beim Pastor –?“
„Jawohl, bei Herrn Pastor!“
„Wachtmeister – aber es ist das letztemal, daß ich Sie vorführen lasse, Kufalt! Ihre Stänkereien habe ich satt! – Wachtmeister, führen Sie den Mann zum Pastor!“
„Was machen Säe für Sachen, Kufalt“, sagt der Wachtmeister mißbilligend auf dem Gang. „Sie machen sich ja ganz zunichte. Wie an die Wand gespuckt sehen Sie aus.“
„Die sollen tun, was uns zusteht!“ sagt Kufalt.
„Dumm sind Sie“, sagt der Wachtmeister. „Wären Sie dem Inspektor ein bißchen hinten reingekrochen wie der Batzke, hätten Sie Ihr ganzes Geld ausbezahlt gekriegt. Aber wenn Sie ihn immerzu ärgern!“
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