Heute
Beim Gedanken an unsere fantastische Liebesgeschichte müssten mir eigentlich die Tränen kommen. Ich bin zwar sehr traurig über das Ende unserer Liebe, kann aber nicht weinen, ich fühle mich leer und abgestumpft. Um die Geschichte zu verarbeiten und damit abzuschließen, verfasse ich einen Brief an Vincent, den ich natürlich nie abschicken werde. Vielleicht kann ich so meinen Frieden damit schließen. Es plätschert weiter mit verschiedenen Therapien dahin: nun muss ich statt Gymnastik zur Gestalttherapie, was mir überhaupt nicht passt. Darin sehe ich kein Talent bei mir und das macht mich wütend, sodass überwiegend Bilder mit rot-schwarzen Wutspritzern Ergebnis der Therapiestunden sind. Mein Gewicht klettert weiter nach oben und ich beschäftige mich mit meinen Ängsten, allen voran der Angst vor dem Dicksein, gefolgt von der Angst vor der Zukunft, das Studium nicht zu schaffen, keinen Job zu bekommen oder überhaupt in meinem Leben zu scheitern. In der Freizeit gehe ich mit den Mädels ins Kino, an den See oder einfach nur so in der Stadt spazieren oder wir gucken gemeinsam „Desperate Housewifes“ und „Deutschland sucht den Superstar“.
Mit Andi, der ja aktuell mein Freund ist, gibt es jetzt immer häufiger Streit am Telefon. Er macht mir Vorwürfe, dass ich egoistisch sei und er daran kaputt ginge. Auch im Chefarztgespräch thematisiere ich das und dieser ist der Meinung, dass Andi immer eine Art Retter oder Held für mich war und nun kann ich mir selbst ganz gut helfen, also brauche ich ihn nicht mehr. Das könnte in ihm ein Gefühl der Nutzlosigkeit auslösen und die ganze Beziehung in Frage stellen, weil er mit der neuen Situation nicht zurechtkommt. Je gesünder ich werde, desto gleichberechtigter werden wir sein. Das ist für uns beide eine neue Erfahrung und wir müssen uns damit erst einmal zurechtfinden. Als Andi mich an einem Samstag besuchen kommt, versuchen wir uns auszusprechen. Wir entspannen im Erlebnisbad und können endlich offen über alles reden. So offenbart er mir, dass er Angst hätte, zurückzufallen in frühere Verhaltensweisen (Drogenmissbrauch), weil er sich sehr labil fühle. Er versichert mir zwar, das habe nichts mit mir zu tun, aber dennoch fühle ich mich schuldig und habe ein schlechtes Gewissen. Ich weiß aber auch, dass es nichts bringt, wenn ich mir den Kopf darüber zerbreche: jeder muss sich selbst helfen! Schon zwei Tage nach unserem Treffen streiten wir uns wieder am Telefon. Es geht ihm sehr schlecht und eigentlich müsste er für seine Klausuren lernen; was genau sein Problem ist, kann er mir aber nicht sagen. Immer öfter habe ich jetzt den Gedanken, dass er die Beziehung beenden könnte. Um das zu vermeiden, vereinbaren wir, etwas auf Abstand zu gehen und weniger Kontakt zu haben, schließlich geht es uns beiden immer schlechter damit. Viel lieber möchte ich mich ganz meinem Klinikleben widmen, wo ich mich mit den vielen lieben Menschen um mich herum immer wohler fühle.
„Ihr tretet mich vom Himalaya und ich kletter wieder rauf.“ -
Jennifer Rostock
Als Exposition (wie es von den Therapeuten genannt wird, wenn man eine Aufgabe erfüllt, die einem meist Schwierigkeiten bereitet) ziehe ich mich heute mal so an, wie für einen Happy Rock Abend. Mein Standard-Weggeh-Outfit besteht immer aus einem kurzen Rock und einem knappen Top, damit meine schlanke Figur besonders gut zur Geltung kommt. Gleich fühle ich mich ganz anders. Wie beim Weggehen in sicherer Umgebung: arrogant und unglaublich cool. Ich genieße den Tag und kann mit meinem selbstbewussten Auftreten sogar den Chefarzt beeindrucken! Er meint, ich wäre eine Bereicherung für die Klinik Roseneck. Am nächsten Tag stehen neben den anderen üblichen Therapien auch Spiegelübungen gemeinsam mit meiner Therapeutin an. Das soll mir helfen, meinen Körper besser wahrzunehmen, wie er tatsächlich ist und nicht, wie er in meinem Kopf durch die Essstörung aussieht. Ich erkenne, dass es nicht so schlimm ist, wie ich befürchte. Meine Aufgabe besteht vor allem darin, meinen Körper zu akzeptieren. Das ist auch der Lieblingsspruch meiner Therapeutin, der in vielen Situationen angewandt werden kann: „Sie müssen es nicht schön finden, Sie müssen es nur akzeptieren!“ Nun ja, das klingt aber trotzdem weitaus einfacher als es dann in der Realität ist. Nach der erfolgreichen Therapiestunde gehe ich in die Stadt und suche mir eine Notfallbox mit Leopardenmuster aus, die ich auch gleich befülle mit verschiedenen Gegenständen, die mir helfen sollen, wenn ich den Druck verspüre, mich zu verletzen. Ich packe ein Gummiband hinein, einen Igelball, Duftöl, Entspannungsbad, Gesichtsmaske und noch vieles mehr. Außerdem telefoniere ich am Ende dieses erfolgreichen Tages mit meiner Patin und Leif, einem gemeinsamen Freund von Andi und mir. Gestärkt gehe ich aus diesen Gesprächen heraus und erkenne, dass ich mich jetzt erst einmal um mich kümmern muss. Für Andi kann ich im Moment wirklich nicht mehr tun.
Am darauffolgenden Wochenende hält meine gute Stimmung an und ich glaube, dass ich sogar glücklich bin. Ein sehr ungewohntes Gefühl, deshalb bin ich mir gar nicht so sicher, ob es wirklich da ist! Aber ja, ich bin zufrieden und verbringe einen schönen Tag mit Daniela und einer weiteren Mitpatientin in Rosenheim. Wir ziehen durch die Geschäfte, kaufen ein, essen Döner und haben viel Spaß. Ganz vergessen kann ich meine Beziehungskrise aber nicht und ich schreibe eine schöne Karte an Andi, weil ich mir einbilde, ich müsste jetzt auch mal etwas geben in unserer Beziehung. Wirklich echt fühlt es sich nicht an, aber ich möchte meine Freude über den schönen Tag teilen und wünsche mir, dass es ihm auch endlich wieder besser geht. Den nächsten Tag unternehme ich mit zwei anderen Mädels einen Schwimmbadbesuch und lasse es mir gut gehen.
Doch schon ein paar Tage später geht es wieder los: Andi und ich streiten uns am Telefon, bis es eskaliert und ich von ihm eine Entscheidung einfordere, ob er weiter mit mir zusammen sein will oder nicht. Wutentbrannt stürme ich danach aus dem Zimmer und reagiere mich bei einem Spaziergang in eisiger Januar-Kälte ab. Kaum bin ich wieder zurück, klingelt das Festnetztelefon in meinem Zimmer erneut, obwohl ich keinen weiteren Anruf an diesem Abend wollte. In diesem Gespräch schafft Andi es, die Tatsachen zu verdrehen und mich als die „Böse“ hinzustellen und ich hätte Glück gehabt, dass er seine Mutter angerufen hat, sonst hätte er für nichts garantieren können. Wofür lässt er offen, ich nehme aber an, er spricht von Drogenkonsum oder Alkohol. Also wenn DAS nicht mal Erpressung ist? Ich fühle mich ungerecht und unfair behandelt und das kann ich überhaupt nicht ertragen. Wie soll ich denn mit ihm umgehen? Am liebsten würde ich gar nicht mehr mit ihm telefonieren, weil mich das nur herunterzieht und ich Angst habe, etwas zu sagen, was dann wieder völlig anders ausgelegt wird, als ich es meine. Zusätzlich wächst in mir der Verdacht, dass er auffällig oft etwas mit einer gewissen Marie unternimmt. Noch beobachte ich aber nur und spreche es nicht an. Ich weine und weine, bis die Augen brennen und geschwollen sind und ich schließlich erschöpft einschlafe. Ein paar Tage später erreicht mich ein Brief, in dem Andi seinen Standpunkt erklärt, welcher nur aus Vorwürfen gegen mich besteht. Obwohl sich das alles sehr unfair anfühlt, mache ich mir die Mühe und beantworte den Brief sogar. Allerdings gibt mir unsere gemeinsame Freundin Anne Recht und sagt, dass ich gerade nichts richtig machen könne und er immer etwas finden wird, worüber er „meckern“ könne.
Im Laufe der nächsten Tage beruhigt sich die angespannte Situation wieder. Vielleicht liegt es auch daran, dass mein Geburtstag bevorsteht und Andi mich gemeinsam mit unserer Freundin Anne und deren einjähriger Tochter Lara besuchen kommen will. Nun kann ich den Fokus wieder ganz auf das Hier und Jetzt richten und mich auf meine Entwicklung konzentrieren. Es tut sich schließlich einiges: mein Gewicht klettert weiter nach oben und ich erreiche einen BMI von 18, somit bin ich laut Definition fast nicht mehr anorektisch, was ich auf der einen Seite schade finde (es macht Angst!), auf der anderen Seite ist mir klar, dass dies der einzige Weg ist, wieder ganz gesund zu werden und die Essstörung zu besiegen. Weiter muss ich meine Essensmengen steigern und gehöre nun an den „Familientisch“. Das bedeutet, ich muss beim Mittagessen meine Menge selbst portionieren. An diesem Tisch fühle ich mich nicht so wohl, ich vermisse meine Clique, mit der ich sonst immer so viel Spaß hatte, und fühle mich etwas einsam. Aber da ich so gute Fortschritte gemacht habe, bin ich jetzt an der Reihe für die Aufnahme an diesen Tisch.
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