»Sie glauben, daß er noch einmal auf sich schießen wird?«
»Nein, jetzt wird er sich nicht mehr erschießen. Aber nehmen Sie sich vor diesen einheimischen Lacenaires in acht! Ich wiederhole Ihnen: diese talentlose, ungeduldige, begehrliche Nichtigkeit nimmt sehr gewöhnlich ihre Zuflucht zum Verbrechen.«
»Ist er etwa ein Lacenaire?«
»Dem eigentlichen Wesen nach ja, wiewohl die theatralischen Rollen vielleicht verschieden sind. Achten Sie einmal darauf, ob dieser Herr nicht imstande ist, ein Dutzend Menschen abzuschlachten, bloß um einen auffallenden Streich zu begehen, genau so, wie er uns das selbst vorhin in seiner Erklärung vorgelesen hat. Jetzt werden mich diese Worte am Einschlafen hindern.«
»Sie beunruhigen sich vielleicht zu sehr.«
»Ich muß mich über Sie wundern, Fürst; glauben Sie nicht, daß er imstande ist, jetzt ein Dutzend Menschen zu töten?«
»Ich scheue mich, Ihnen darauf zu antworten; all dies ist so seltsam, aber ...«
»Nun, wie Sie wollen, wie Sie wollen!« schloß Jewgeni Pawlowitsch gereizt. »Überdies sind Sie ja ein so tapferer Mann; nehmen Sie sich nur in acht, daß Sie nicht selbst einer von diesem Dutzend werden.«
»Das Wahrscheinlichste ist, daß er niemand töten wird«, sagte der Fürst, indem er Jewgeni Pawlowitsch nachdenklich anblickte.
Dieser lachte ärgerlich.
»Auf Wiedersehen! Es wird Zeit, daß ich gehe! Haben Sie wohl beachtet, daß er eine Abschrift seiner Beichte Aglaja Iwanowna vermacht hat?«
»Ja, es ist mir aufgefallen, und ... ich denke darüber nach.«
»Denken Sie darüber nach, wenn es zu dem Dutzend Morde kommen sollte«, antwortete Jewgeni Pawlowitsch, von neuem lachend, und ging weg.
Eine Stunde darauf (es war schon drei Uhr vorüber) ging der Fürst in den Park hinunter. Er hatte in seiner Wohnung zu schlafen versucht, es aber vor starkem Herzklopfen nicht vermocht. Im Haus war übrigens alles angemessen eingerichtet worden, und man hatte sich wieder einigermaßen beruhigt; der Kranke war eingeschlafen, und der Arzt, der gekommen war, hatte erklärt, es bestehe keinerlei besondere Gefahr. Lebedjew, Kolja und Burdowski hatten sich im Zimmer des Kranken hingelegt, um einander in der Nachtwache abzulösen; es war also kein Grund, sich Sorgen zu machen.
Aber die Unruhe des Fürsten wuchs von Minute zu Minute. Er schweifte, zerstreut um sich blickend, im Park umher und blieb erstaunt stehen, als er zu dem freien Platz vor dem Bahnhof gelangte und die Reihen leerer Bänke und die Pulte für die Musiker erblickte. Dieser Ort machte einen überraschenden Eindruck auf ihn und kam ihm aus unklarem Grund furchtbar häßlich vor. Er kehrte wieder um und gelangte auf eben dem Weg, auf dem er tags zuvor mit Jepantschins zum Bahnhof gegangen war, zu der grünen Bank, die ihm für das Rendezvous bezeichnet war, setzte sich darauf und lachte plötzlich laut auf, worüber er sofort in starke Entrüstung geriet. Seine traurige Stimmung hielt immer noch an; er wäre am liebsten irgendwohin davongegangen, er wußte nur nicht, wohin. Über ihn auf einem Baum sang ein Vögelchen, und er begann es mit den Augen im Laubwerk zu suchen; plötzlich flatterte das Vögelchen von dem Baum fort, und in demselben Augenblick mußte er unwillkürlich an jene Fliege im warmen Sonnenstrahl denken, von welcher Ippolit in seiner Erklärung gesagt hatte, sie kenne ihren Platz in dem allgemeinen Festchor und nehme an diesem teil, während er allein ein Ausgestoßener sei. Dieser Gedanke hatte schon vorhin auf ihn einen starken Eindruck gemacht, und er erinnerte sich jetzt daran. Längst Vergessenes wurde jetzt in ihm rege und trat ihm plötzlich klar vor die Seele.
Das war in der Schweiz gewesen, im ersten Jahr seiner Kur, sogar in den ersten Monaten. Er war damals noch ganz wie ein Idiot, konnte nicht einmal ordentlich sprechen und war manchmal nicht imstande, zu verstehen, was man von ihm verlangte. Er war einmal an einem klaren, sonnigen Tag in die Berge gegangen und wanderte dort, mit einem qualvollen Gedanken beschäftigt, der aber durchaus keine deutliche Gestalt annehmen wollte, lange umher. Über ihm war der leuchtende Himmel, unten der See, ringsum der helle Horizont in weiter, weiter Entfernung. Er schaute dies alles lange an und wurde dabei von einem schmerzlichen Gefühl gepeinigt. Er erinnerte sich jetzt, daß er damals seine Hände nach dieser hellen, endlosen Bläue ausstreckte und weinte. Es war ihm eine Qual, daß er alldem ganz fremd gegenüberstand. Was war denn dies für ein Festschmaus, was war denn dies für ein steter, endloser, großer Feiertag, zu dem es ihn schon lange, schon immer, schon seit seiner Kindheit hinzog, und zu dem er doch nie gelangen konnte? Jeden Morgen ging dieselbe helle Sonne auf; jeden Morgen stand über dem Wasserfall ein Regenbogen; jeden Abend flammte der höchste, schneebedeckte Berg dort in der Ferne am Rande des Himmels in purpurner Glut auf; jede kleine Fliege, die im warmen Sonnenstrahl um ihn herumsummte, nahm an diesem ganzen Festchor teil, kannte ihren Platz, liebte ihn und war glücklich; jedes Gräschen wuchs und war glücklich! Und alles hatte seinen gewiesenen Weg, und alles kannte seinen Weg und kam singend und ging singend; nur er wußte nichts und verstand nichts, weder die Menschen noch die Töne; er stand allem fremd gegenüber; er war ein Ausgestoßener. Er konnte seinen Gedanken damals natürlich nicht mit diesen Worten aussprechen und ausdrücken; er quälte sich taub und stumm; aber jetzt schien es ihm, als habe er all dies schon damals gesagt, all diese selben Worte, und als habe Ippolit das über die Fliege Gesagte von ihm selbst, aus seinen damaligen Worten und Tränen, herübergenommen. Er war davon überzeugt, und das Herz begann ihm bei diesem Gedanken heftig zu klopfen ...
Er schlief auf der Bank ein; aber seine Unruhe setzte sich auch im Schlaf fort. Unmittelbar vor dem Einschlafen erinnerte er sich an die Befürchtung, daß Ippolit ein Dutzend Menschen ermorden werde, und mußte über das Absurde dieser Vorstellung lächeln. Um ihn herum herrschte eine schöne, reine Stille; nur die Blätter rauschten leise, und davon schien es ringsumher noch stiller und einsamer zu werden. Er träumte sehr viel, und es waren lauter unruhige Träume, infolge deren er alle Augenblicke zusammenschrak. Schließlich träumte er, es käme eine Frau zu ihm; er kannte sie, kannte sie mit Schmerzen; er konnte einem jeden ihren Namen nennen, sie einem jeden zeigen; aber seltsam: sie hatte jetzt ein ganz anderes Gesicht als dasjenige, das er immer gekannt hatte, und er gab sich mit innerer Qual alle mögliche Mühe, sie nicht als jene Frau wiederzuerkennen. In diesem Gesicht lag so viel Reue und Angst, daß es schien, sie sei eine furchtbare Verbrecherin und habe soeben eine schreckliche Tat begangen. Eine Träne zitterte auf ihrer blassen Wange; sie winkte ihm mit der Hand und legte den Finger an die Lippen, wie wenn sie ihn auffordern wollte, ihr leise zu folgen. Das Herz stand ihm still; um keinen Preis, um keinen Preis wollte er sie für eine Verbrecherin halten; aber er fühlte, daß sogleich etwas Schreckliches vorgehen werde, durch das sein ganzes Leben werde beeinflußt werden. Sie schien ihm etwas zeigen zu wollen, ganz in der Nähe, im Park. Er erhob sich, um ihr nachzugehen, und auf einmal hörte er, wie neben ihm jemand frisch und fröhlich lachte; eine Hand befand sich in der seinigen; er erfaßte diese Hand, drückte sie kräftig und erwachte. Vor ihm stand laut lachend Aglaja.
Sie lachte; aber sie war zugleich unwillig.
»Er schläft! Sie haben geschlafen!« rief sie verwundert und geringschätzig.
»Sie sind es!« murmelte der Fürst, der noch nicht ganz zu sich gekommen war und sie mit Erstaunen erkannte.
»Ach ja! Das Rendezvous ...! Ich habe hier geschlafen.«
»Das habe ich gesehen.«
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