Dem Fürsten ging plötzlich ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. Er blickte Aglaja prüfend an und lächelte.
Er konnte gar nicht glauben, daß dasselbe hochmütige Mädchen vor ihm saß, das ihm früher einmal mit so stolzer, hochfahrender Miene Gawrila Ardalionowitschs Brief zum Lesen gegeben hatte. Er vermochte nicht zu begreifen, wie in diesem hochmütigen, abweisenden schönen Mädchen ein solches Kind stecken konnte, ein Kind, das vielleicht in Wirklichkeit auch jetzt noch nicht »alle Ausdrücke« verstand.
»Haben Sie immer nur im Elternhaus gelebt, Aglaja Iwanowna?« fragte er. »Ich meine, sind Sie nie in einer Schule gewesen, haben Sie nie ein Unterrichtsinstitut besucht?«
»Nein, niemals; ich habe immer wie in einer verkorkten Flasche zu Hause gesessen und werde direkt aus der Flasche heiraten; warum lächeln Sie wieder? Ich mache die Wahrnehmung, daß anscheinend auch Sie sich über mich lustig machen und sich zur Gegenpartei halten«, fügte sie, finster die Stirn runzelnd, hinzu. »Machen Sie mich nicht ärgerlich; ich weiß sowieso schon nicht, was in meinem Kopf vorgeht ... Ich bin überzeugt, Sie sind in dem festen Glauben hierhergekommen, daß ich in Sie verliebt wäre und Sie zu einem Rendezvous bestellt hätte«, sagte sie in gereiztem Ton.
»Ich habe das gestern wirklich befürchtet«, versetzte der Fürst in unbedachtsamer Offenherzigkeit (er war sehr verwirrt). »Aber heute bin ich überzeugt, daß Sie ...«
»Wie!« rief Aglaja, und ihre Unterlippe fing auf einmal an zu zittern. »Sie haben befürchtet, daß ich ... Sie haben zu denken gewagt, daß ich ... O Gott! Sie haben vielleicht geargwöhnt, ich hätte Sie mit der Absicht hierher bestellt, Sie in meine Netze zu locken, damit man uns dann hier zusammen überraschte und Sie nötigte, mich zu heiraten ...«
»Aglaja Iwanowna! Schämen Sie sich denn nicht? Wie konnte nur ein so unreiner Gedanke in Ihrem reinen, unschuldigen Herzen entstehen? Ich möchte darauf wetten, daß Sie selbst kein Wort von dem, was Sie eben sagten, für wahr halten ... Sie wissen selbst nicht, was Sie reden!«
Aglaja saß mit beharrlich gesenktem Kopf da, wie wenn sie selbst über das, was sie gesagt hatte, einen Schreck bekommen hätte.
»Ich schäme mich ganz und gar nicht«, murmelte sie.
»Woher wissen Sie, daß ich ein unschuldiges Herz habe? Wie konnten Sie wagen, mir damals den Liebesbrief zu schicken?«
»Einen Liebesbrief? Mein Brief ein Liebesbrief! Das war ein höchst respektvoller Brief; was in diesem Brief stand, das war meinem Herzen in der schwersten Stunde meines Lebens entquollen! Ich erinnerte mich damals Ihrer wie einer Lichtgestalt ... ich ...«
»Nun gut, gut«, unterbrach sie ihn, aber in ganz verändertem Ton, aus welchem man tiefe Reue und Angst heraushörte; sie bog sich sogar zu ihm hin, wobei sie es aber immer noch vermied, ihn gerade anzusehen, und war nahe daran, ihn an der Schulter zu berühren, um ihre Bitte, daß er ihr nicht böse sein möge, noch eindringlicher zu machen. »Gut«, fügte sie, sich furchtbar schämend, hinzu, »ich fühle, daß ich mich eines schrecklich dummen Ausdrucks bedient habe. Ich habe das gesagt ... um Sie zu prüfen. Nehmen Sie an, ich hätte es nicht gesagt! Und wenn ich Sie gekränkt habe, so verzeihen Sie mir! Bitte, sehen Sie mich nicht gerade an; wenden Sie sich ab! Sie sagten, das sei ein sehr unreiner Gedanke: ich habe es absichtlich gesagt, um Sie zu verletzen. Manchmal bekomme ich selbst einen Schreck über das, was ich sagen möchte; aber auf einmal sage ich es doch. Sie sagten soeben, Sie hätten diesen Brief in der schwersten Stunde Ihres Lebens geschrieben ... Ich weiß, was das für eine Stunde war«, sagte sie leise und blickte wieder zur Erde.
»Oh, wenn Sie alles wissen könnten!«
»Ich weiß alles!« rief sie in erneuter Erregung. »Sie lebten damals einen ganzen Monat lang in ein und derselben Wohnung mit dieser abscheulichen Frau, mit der Sie davongegangen waren ...«
Sie errötete jetzt nicht mehr, während sie das sagte, sondern wurde blaß; auf einmal stand sie wie geistesabwesend von der Bank auf, setzte sich aber, zur Besinnung kommend, sogleich wieder hin; ihre Lippe zuckte noch lange weiter. Das Schweigen dauerte etwa eine Minute lang.
Der Fürst war über diese plötzliche Heftigkeit sehr überrascht und wußte nicht, worauf er sie zurückführen sollte.
»Ich liebe Sie durchaus nicht«, sagte sie plötzlich kurz und scharf.
Der Fürst antwortete nicht; sie schwiegen wieder ungefähr eine Minute lang.
»Ich liebe Gawrila Ardalionowitsch ...«, sagte sie hastig, aber kaum hörbar und ließ den Kopf noch tiefer sinken.
»Das ist nicht wahr«, erwiderte der Fürst, ebenfalls beinah flüsternd.
»Dann lüge ich also? Es ist doch wahr, ich habe ihm mein Wort gegeben, vorgestern, auf dieser selben Bank.«
Der Fürst erschrak und dachte einen Augenblick nach.
»Das ist nicht wahr«, sagte er noch einmal in entschiedenem Ton. »Sie haben sich das alles nur ausgedacht.«
»Sehr höflich von Ihnen! Wissen Sie, er hat sich gebessert; er liebt mich mehr als sein Leben. Er hat vor meinen Augen seine Hand verbrannt, nur um mir zu beweisen, daß er mich mehr liebt als sein Leben.«
»Er hat seine Hand verbrannt?«
»Jawohl, seine Hand. Sie mögen es glauben oder nicht, das ist mir ganz gleich.«
Der Fürst schwieg wieder. Aglajas Worte klangen nicht scherzhaft; sie war ärgerlich.
»Wie? Hat er denn eine Kerze hierher mitgebracht, wenn das hier vorgegangen ist? Anders kann ich mir die Sache nicht vorstellen ...«
»Jawohl ... eine Kerze. Was ist daran unwahrscheinlich?«
»Eine bloße ganze Kerze oder eine auf einem Leuchter?«
»Nun ja ... nein ... eine halbe Kerze ... ein Stümpfchen ... eine ganze Kerze ..., das ist ja ganz egal; lassen Sie doch das Gerede ...! Meinetwegen kann er auch Zündhölzer mitgebracht haben! Er zündete die Kerze an und hielt eine ganze halbe Stunde lang den Finger in die Flamme; ist das etwa nicht möglich?«
»Ich habe ihn gestern gesehen; seine Finger sind ganz heil.«
Aglaja brach nun auf einmal ganz wie ein Kind in ein prustendes Gelächter aus.
»Wissen Sie, warum ich eben gelogen habe?« wandte sie sich dann mit der kindlichen Zutraulichkeit an den Fürsten; ihre Lippen zitterten immer noch vor Lachen. »Deswegen: wenn man lügt und dabei in geschickter Weise etwas Ungewöhnliches, Außerordentliches einflicht, wissen Sie, etwas, was sehr selten ist oder überhaupt nicht vorkommt, dann erscheint die Lüge weit glaubhafter. Das habe ich früher beobachtet. Es ist mir nur deshalb mißglückt, weil ich es nicht richtig verstanden habe ...« Auf einmal machte sie wieder ein finsteres Gesicht, wie wenn ihr etwas einfiele.
»Wenn ich damals«, sagte sie, indem sie sich zu dem Fürsten hinwandte und ihn mit ernster, ja trauriger Miene ansah, »wenn ich Ihnen damals das Gedicht vom ›armen Ritter‹ deklamiert habe, so wollte ich Sie damit zwar für einiges loben, zugleich aber wollte ich auch Ihr Benehmen in gewisser Hinsicht als Torheit hinstellen und Ihnen beweisen, daß ich alles wußte ...«
»Sie sind sehr ungerecht gegen mich und gegen jene unglückliche Frau, von der Sie soeben einen so schrecklichen Ausdruck gebrauchten, Aglaja.«
»Ich habe den Ausdruck deswegen gebraucht, weil ich alles weiß! Ich weiß, daß Sie vor einem halben Jahr vor aller Ohren ihr Ihre Hand antrugen. Unterbrechen Sie mich nicht; Sie sehen, ich führe nur Tatsachen an, ohne eine Kritik daran zu knüpfen. Darauf ist sie mit Rogoschin davongelaufen; dann haben Sie mit ihr in irgendeinem Dorf oder in irgendeiner Stadt zusammen gelebt, und sie ist von Ihnen weggegangen und hat sich zu irgendeinem andern begeben.« (Aglaja errötete stark.) »Dann ist sie wieder zu Rogoschin zurückgekehrt, der sie wie ... wie ein Wahnsinniger liebte. Darauf sind Sie, der Sie ebenfalls ein sehr verständiger Mensch sind, ihr jetzt schleunigst hierher nachgereist, sowie Sie erfahren hatten, daß sie nach Petersburg zurückgekehrt war. Gestern abend haben Sie sich zu ihrem Verteidiger aufgeworfen, und jetzt eben haben Sie von ihr geträumt ... Sie sehen, daß ich alles weiß; Sie sind ja doch um ihretwillen hierher gereist, nicht wahr, um ihretwillen?«
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