Die Religion! Daß es ein ewiges Leben gibt, gebe ich zu und habe ich vielleicht immer zugegeben. Nehmen wir an, mein Bewußtsein sei nach dem Willen einer höheren Macht aufgeflammt; nehmen wir an, dieses mit Bewußtsein begabte Wesen habe sich in der Welt umgeschaut und gesagt: ›Ich bin!‹, und nehmen wir an, diese höhere Macht schreibe ihm plötzlich vor, wieder zu verschwinden, weil das zu irgendeinem Zweck, der ihm nicht einmal erklärt wird, notwendig sei – dies alles zugegeben, so erhebt sich doch immer wieder die stete Frage: wozu ist unter solchen Umständen von meiner Seite Sanftmut erforderlich? Kann ich denn nicht einfach aufgefressen werden, ohne daß man von mir ein Loblied auf dasjenige verlangt, was mich auffrißt? Trete ich wirklich jemandem damit zu nahe, daß ich nicht noch zwei Wochen warten will? Ich kann das nicht glauben; weit richtiger dürfte die Annahme sein, daß mein nichtiges Leben, das Leben eines Atoms, einfach erforderlich war, um irgendwelche allgemeine Harmonie im Weltall zu vervollständigen, um irgendein Plus oder Minus herbeizuführen, irgendeinen Kontrast herzustellen und so weiter und so weiter, gerade so wie täglich der Opfertod vieler Millionen von Wesen erfordert wird, ohne den die übrige Welt nicht existieren kann (wiewohl dazu bemerkt werden muß, daß diese Einrichtung an und für sich nicht sehr edelmütig ist). Aber nehmen wir dies an! Ich will zugeben, daß es unmöglich war, die Welt auf andere Weise einzurichten, das heißt ohne ein fortwährendes gegenseitiges Auffressen; ich will sogar zugeben, daß ich von dieser Einrichtung nichts verstehe; aber dafür weiß ich etwas anderes mit Bestimmtheit: wenn mir auch das Bewußtsein meines Ichs verliehen ist, so ist es doch nicht meine Sache, daß die Welt fehlerhaft eingerichtet ist und nicht anders bestehen kann. Wer wird unter solchen Umständen über mich zu Gericht sitzen und weswegen? Man mag sagen, was man will, das alles erscheint unmöglich und ungerecht.
Und doch habe ich niemals, sogar trotz meines lebhaften Wunsches nicht, mir vorstellen können, daß es kein zukünftiges Leben und keine Vorsehung gebe. Am wahrscheinlichsten ist wohl, daß dies alles existiert, daß wir aber vom zukünftigen Leben und seinen Gesetzen nichts begreifen. Aber wenn es so schwer, ja ganz unmöglich ist, dies zu begreifen, kann ich denn dann dafür verantwortlich gemacht werden, daß ich nicht imstande gewesen bin, das Unfaßbare zu ergründen? Allerdings sagen nun die Menschen, und natürlich der Fürst mit ihnen, hier sei eben Gehorsam vonnöten; man müsse gehorchen, ohne zu räsonieren, einzig und allein infolge guter Gesittung, und ich würde mit Sicherheit in jener Welt für meine Sanftmut belohnt werden. Wir erniedrigen die Vorsehung zu sehr, wenn wir aus Ärger darüber, daß wir sie nicht begreifen können, ihr unsere eigenen Anschauungen zuschreiben. Aber ich wiederhole noch einmal: wenn es unmöglich ist, sie zu begreifen, dann kann der Mensch auch schwer für das verantwortlich gemacht werden, was zu begreifen ihm nicht vergönnt ist. Aber wenn dem so ist, wie kann ich dann dafür verurteilt werden, daß ich den wahren Willen und die wahren Gesetze der Vorsehung nicht habe begreifen können? Nein, das beste ist schon, die Religion aus dem Spiel zu lassen.
Nun genug! Wenn ich bis zu diesen Zeilen gelangt sein werde, wird gewiß die Sonne schon aufgehen und ›am Himmel ertönen‹, und eine gewaltige, unberechenbare Kraft wird sich über die ganze von ihr beschienene Erde ergießen. Sei es denn! Ich werde sterben, indem ich auf die Quelle der Kraft und des Lebens gerade hinblicke, und dieses Leben verschmähen! Hätte es in meiner Macht gestanden, nicht geboren zu werden, so würde ich ein an so höhnische Bedingungen geknüpftes Dasein gewiß nicht angenommen haben. Aber es steht noch in meiner Macht zu sterben, obgleich ich nur einen kargen, zählbaren Rest hingebe. Das ist keine große Machtäußerung und auch keine große Auflehnung gegen das Schicksal.
Eine letzte Erklärung: »ich sterbe ganz und gar nicht deswegen, weil ich nicht imstande wäre, diese drei Wochen noch zu ertragen; oh, meine Kraft würde schon dazu ausreichen, und wenn ich wollte, würde ich schon an dem bloßen Bewußtsein des mir angetanen Unrechts einen ausreichenden Trost haben; aber ich bin kein französischer Dichter und mag solchen Trost nicht. Endlich noch etwas, was mich vielleicht lockt: die Natur hat dadurch, daß sie mir bis zu meiner Hinrichtung nur drei Wochen Frist gegeben hat, meine Tätigkeit dermaßen eingeschränkt, daß vielleicht der Selbstmord die einzige Handlung ist, die nach eigenem Willen anzufangen und zu beenden ich noch Zeit habe. Nun, vielleicht will ich die letzte Möglichkeit, etwas zu tun, benutzen? Auch ein Protest ist manchmal keine kleine Tat ...«
Die »Erklärung« war zu Ende. Ippolit hielt endlich inne ...
Es gibt in extremen Fällen einen höchsten Grad zynischer Offenherzigkeit, bei welchem ein nervöser Mensch, der auf das äußerste gereizt und ganz außer sich geraten ist, nichts mehr fürchtet und zu jedem Skandal bereit ist, ja sogar mit Freuden einen solchen hervorruft; er fällt über andere Menschen her, indem er dabei die unklare, aber feste Absicht hat, sich im nächsten Augenblick unbedingt von einem Kirchturm herabzustürzen und dadurch mit einem Schlag alle etwa entstandenen Mißverständnisse zu beseitigen. Ein Merkmal dieses Zustandes ist gewöhnlich auch die herannahende Erschöpfung der physischen Kräfte. Die außerordentliche, fast unnatürliche Anspannung, infolge deren Ippolit sich bis dahin aufrechterhalten hatte, war nun bis auf diesen höchsten Grad gelangt. An sich erschien dieser achtzehnjährige, von der Krankheit erschöpfte junge Mensch schwach wie ein vom Baum abgerissenes, zitterndes Blättchen; aber sobald er Zeit fand, einen Blick über seine Zuhörer gleiten zu lassen (was er jetzt zum erstenmal seit einer ganzen Stunde tat), prägte sich sofort der hochmütigste, verächtlichste, beleidigendste Widerwille in seinem Blick und in seinem Lächeln aus. Er beeilte sich mit dieser Herausforderung. Aber auch die Zuhörer befanden sich in voller Entrüstung. Alle erhoben sich geräuschvoll und ärgerlich vom Tisch. Die Müdigkeit, der Wein, die Anspannung steigerten noch den Wirrwarr und, wenn man sich so ausdrücken kann, die Unreinlichkeit der Empfindungen.
Plötzlich sprang Ippolit schnell vom Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte.
»Die Sonne ist aufgegangen!« rief er, indem er nach den leuchtenden Baumwipfeln hinblickte und, zum Fürsten gewendet, mit der Hand auf sie wie auf ein Wunder hinwies. »Sie ist aufgegangen!«
»Haben Sie denn gedacht, sie würde nicht aufgehen?« bemerkte Ferdyschtschenko.
»Das verspricht wieder Hitze für den ganzen Tag«, murmelte Ganja lässig und ärgerlich; er hielt den Hut in der Hand, reckte sich und gähnte. »Die Trockenheit scheint den ganzen Monat anzuhalten ...! Wollen wir gehen, Ptizyn?«
Ippolit wurde, als er ihn so reden hörte, fast starr vor Staunen; auf einmal erbleichte er furchtbar und begann am ganzen Leib zu zittern.
»Sie bringen die Gleichgültigkeit, mit der Sie mich kränken wollen, in recht ungeschickter Weise zum Ausdruck«, wandte er sich an Ganja und sah ihn dabei starr an. »Sie sind ein Nichtswürdiger!«
»Na, weiß der Teufel, was das vorstellen soll, sich so aufzuknöpfen!« schrie Ferdyschtschenko. »Was ist das für eine unerhörte Schwachmütigkeit!«
»Er ist einfach ein Narr«, sagte Ganja.
Ippolit hatte wieder ein wenig Kraft gesammelt.
»Ich verstehe das, meine Herren«, begann er, immer noch wie vorher zitternd und bei jedem Wort stockend, »daß ich Ihre persönliche Rache verdient habe, und ... ich bedaure, Sie mit diesen Fieberphantasien« (er wies auf das Manuskript) »halbtot gequält zu haben. Übrigens bedaure ich, daß es mir nicht gelungen ist, Sie ganz totzuquälen ...« (Er lächelte einfältig.) »Habe ich Sie totgequält, Jewgeni Pawlowitsch?« fragte er diesen, sich plötzlich zu ihm herumwendend. »Habe ich Sie totgequält oder nicht? Antworten Sie!«
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