Daß der Fürst sich in einem fieberhaften Zustand befand, das war natürlich ganz richtig.
Er schweifte lange im dunklen Park umher und wurde sich endlich seiner selbst bewußt, wie er in einer Allee auf und ab ging. In seinem Gedächtnis haftete die Erinnerung, daß er in dieser Allee, von einer Bank angefangen bis zu einem alten, hohen, auffallenden, nur hundert Schritte von ihr entfernten Baum, bereits etwa dreißig- bis vierzigmal hin und her gegangen war. Sich zu erinnern, was er in dieser Zeit von mindestens einer ganzen Stunde im Park gedacht hatte, war er außerstande, selbst wenn er es gewollt hätte. Er ertappte sich übrigens auf einem Gedanken, der ihn veranlaßte, plötzlich in ein herzliches Gelächter auszubrechen; es war zwar eigentlich kein Grund zum Lachen vorhanden; aber er hatte jetzt immer Lust zu lachen. Es war ihm eingefallen, daß die Idee von einem bevorstehenden Duell auch noch in einem andern Kopf als nur in dem Kellers hatte entstehen können, und daß daher die Geschichte vom Pistolenladen vielleicht nicht zufällig gewesen war ... »Ah!« dachte er und blieb, von einem andern Gedanken erleuchtet, stehen, »vorhin kam sie nach der Veranda herunter, als ich in der Ecke saß, und wunderte sich gewaltig, mich dort zu finden, und lachte so und fing an vom Teetrinken zu reden; und doch hatte sie in diesem Augenblick schon diesen Zettel in der Hand; folglich wußte sie unbedingt, daß ich in der Veranda saß. Warum tat sie denn also so erstaunt? Hahaha!«
Er zog den Zettel aus der Tasche und küßte ihn, blieb dann aber sogleich stehen und versank in Gedanken.
»Wie sonderbar das ist! Wie sonderbar das ist!« sagte er ein Weilchen darauf sogar mit einer Art von Traurigkeit: in Augenblicken einer starken Freudenempfindung wurde er stets traurig, er wußte selbst nicht woher. Er schaute aufmerksam um sich und wunderte sich, daß er hierher geraten war. Er war sehr müde, ging zu der Bank und setzte sich darauf. Ringsum herrschte tiefe Stille. Die Musik beim Bahnhof hatte schon aufgehört. Im Park war vielleicht keine Menschenseele mehr; es war ja auch schon mindestens halb zwölf. Es war eine stille, warme, helle Nacht, so eine echte Petersburger Nacht zu Anfang Juni; aber in dem dichten, schattigen Park und in der Allee, in der er sich befand, war es fast schon ganz dunkel. Wenn ihm jemand in diesem Augenblick gesagt hätte, daß er verliebt, leidenschaftlich verliebt sei, so würde er diesen Gedanken erstaunt und vielleicht sogar entrüstet zurückgewiesen haben. Und wenn jemand hinzugefügt hätte, daß Aglajas Zettelchen ein Liebesbrief sei, die Aufforderung zu einem Liebes-Rendezvous, so würde er sich für ihn in tiefster Seele geschämt und ihn vielleicht zum Duell gefordert haben. Diese seine ganze Anschauung war völlig aufrichtig und durch keinerlei Zweifel getrübt, und er lehnte jede Spur eines »doppelten« Gedankens an die Möglichkeit der Liebe eines solchen Mädchens zu ihm oder gar an die Möglichkeit seiner Liebe zu diesem Mädchen entschieden ab. Eines solchen Gedankens hätte er sich geschämt: die Annahme, daß sie ihn, »einen solchen Menschen, wie er«, lieben könne, hätte er für ungeheuerlich gehalten. Seiner Vorstellung nach handelte es sich von ihrer Seite einfach um Mutwillen, wenn überhaupt etwas dahintersteckte; aber er fand diese Voraussetzung ganz naturgemäß und regte sich über diesen vorausgesetzten Mutwillen nicht auf; etwas ganz anderes war es, was ihn beschäftigte und seine Gedanken in Anspruch nahm. Die Bemerkung, die kurz vorher dem General in seiner Erregung entschlüpft war, daß sie sich über alle und namentlich über ihn, den Fürsten, lustig mache, hielt er für vollkommen richtig. Er fühlte sich dadurch auch nicht im geringsten verletzt; seiner Meinung nach mußte es eben so sein. Die Hauptsache war ihm, daß er sie am nächsten Tag frühmorgens wiedersehen, neben ihr auf der grünen Bank sitzen, die Belehrung über das Laden von Pistolen anhören und sie ansehen werde. Weiter hatte er keinen Wunsch. Die Frage, was sie ihm eigentlich sagen wolle, und was das für eine wichtige, ihn direkt angehende Angelegenheit sei, tauchte ebenfalls ein- oder zweimal in seinem Kopf auf. An der tatsächlichen Existenz dieser »wichtigen Angelegenheit«, um derentwillen er zum Rendezvous bestellt war, zweifelte er keinen Augenblick; aber er dachte an diese wichtige Angelegenheit jetzt fast gar nicht, so wenig, daß er nicht einmal den geringsten Drang verspürte, daran zu denken.
Das Knirschen leiser Schritte auf dem Sand der Allee veranlaßte ihn, den Kopf in die Höhe zu heben. Ein Mensch, dessen Gesicht in der Dunkelheit schwer zu erkennen war, näherte sich der Bank und setzte sich neben ihn. Der Fürst rückte schnell nahe an ihn heran und erkannte das bleiche Gesicht Rogoschins.
»Das habe ich doch gewußt, daß du hier irgendwo umherschweifst; ich habe auch nicht lange zu suchen brauchen«, murmelte Rogoschin durch die Zähne.
Es war das erste Mal seit ihrer Begegnung auf der Treppe des Gasthauses, daß sie miteinander zusammentrafen. Überrascht durch Rogoschins plötzliches Erscheinen konnte der Fürst eine Weile nicht mit seinen Gedanken in Ordnung kommen, und eine qualvolle Empfindung wurde in seinem Herzen wieder wach. Rogoschin hatte offenbar Verständnis für den Eindruck, den er hervorrief; aber obgleich er am Anfang verwirrt zu sein und mit einer Art von gekünstelter Ungezwungenheit zu reden schien, so merkte der Fürst doch bald, daß in Wirklichkeit von Künstelei oder besonderer Verlegenheit bei ihm nicht die Rede war; wenn eine gewisse Ungeschicklichkeit in seinen Gestikulationen und in seiner Redeweise zutage trat, so war das nur äußerlich; im Herzen konnte sich dieser Mensch nicht verändern.
»Wie hast du ... mich denn hier gefunden?« fragte der Fürst, um etwas zu sagen.
»Ich hatte von Keller gehört (ich war nämlich nach deiner Wohnung herangegangen), du wärest in den Park gegangen; na, dachte ich, dann ist die Sache richtig.«
»Was heißt das: ›die Sache ist richtig‹?« fragte der Fürst, indem er aufgeregt den Ausdruck aufgriff, der dem andern entschlüpft war.
Rogoschin lächelte, gab aber keine Erklärung dafür.
»Ich habe deinen Brief erhalten, Ljow Nikolajewitsch; du hast dir unnütze Mühe gemacht ... wozu tust du das nur ...! Jetzt aber komme ich zu dir in ihrem Auftrag: du sollst unbedingt zu ihr kommen; sie hat dir etwas zu sagen. Sie läßt dich bitten, noch heute hinzukommen.«
»Ich werde morgen kommen. Ich gehe jetzt gleich nach Hause. Willst du nicht ... zu mir kommen?«
»Wozu? Ich habe dir alles Nötige gesagt; adieu!«
»Willst du nicht doch mitgehen?« fragte ihn der Fürst leise.
»Du bist ein sonderbarer Mensch, Ljow Nikolajewitsch; man muß sich über dich wundern.«
Rogoschin lächelte spöttisch.
»Warum? Weshalb hast du jetzt einen solchen Groll gegen mich?« fragte ihn der Fürst traurig und mit warmer Empfindung. »Du weißt ja jetzt selbst, daß alles, was du gedacht hast, unwahr ist. Übrigens habe ich es mir auch gedacht, daß dein Groll gegen mich noch nicht vergangen sein würde, und weißt du, weshalb? Weil du mir nach dem Leben getrachtet hast, darum vergeht dein Groll nicht. Ich sage dir, ich erinnere mich nur an jenen Parfen Rogoschin, mit dem ich an jenem Tag das Kreuz gewechselt habe; ich habe dir das in meinem gestrigen Brief geschrieben, damit du diesen ganzen Fieberwahn vergessen und nicht mit mir davon zu reden anfangen möchtest. Warum trittst du von mir weg? Warum versteckst du deine Hand vor mir? Ich sage dir, daß ich alles damals Geschehene nur für einen Fieberwahn halte: ich habe jetzt für dich, wie du an jenem ganzen Tag warst, ein ebenso gutes Verständnis wie für mich selbst. Das, was du dir einbildest, existierte nicht und konnte nicht existieren. Warum soll unser Groll fortdauern?«
»Was kannst du denn für Groll empfinden?« erwiderte Rogoschin, wieder lachend, auf die warmen Worte des Fürsten.
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