Als die Kutsche anhielt, war sie überrascht als ein einzelner Mann ausstieg. Der Geruch von Büchern, Mottenkugeln und strenger Wasser-Brot-Diät ging von ihm aus, sowie das hohe Alter. Tiere witterten über den Geruch Alter, Geschlecht und sogar ansteckende Krankheiten. Der Geruch vom Magistrat war reines Pergament, unverfälschtes Studium von Büchern und steriler Sauberkeit eines Klosterkämmerchens. Nur ein Mensch.
Nein, da war noch mehr.
Eine Autorität.
„Mein Name ist Sir Reynold Huckstebull Fleming“, stellte sich der Mann vor, der eine besonders breite fliehende Stirn besaß. „und ich bin Magistrat für Heraldik und Adelsgeschichte.“
„Claudile“, sagte sie und reichte ihm die Hand.
Sir Reynold schüttelte nur den Kopf. „Nein, so geht das nicht. Eine Dame von Welt stellt sich anderen immer mit dem vollen Titel vor. Versuchen wir es nochmal.“ Er öffnete ein großes in Ledergeschlagenes Buch und las daraus vor: „Ihr seid Lady Claudile, die ehrwürdige Tochter des großen Khans, unserem Herrn und Meister.“ Er sah sie kurz an. „Fürstin Claudile Salacia Aminata Urnie von Alemont.“
Claudile verzog das Gesicht. „Auch bei meinen Freunden?“
Sir Reynold schloss das Buch und seufzte. „Ihr beliebt zu scherzen. Gleichwohl möchte ich hinzufügen, dass das Amt für Heraldik und Adelsgeschichte entscheidet, wer wirklich zum Adeligen taugt oder nicht. Jene, die tun, was getan werden muss, ernsten selten Lohn. Dafür gibt es viele Beispiel, und leider lässt sich nichts daran ändern.“ Seine Stimme verlor ihren kummervollen Klang, als er fortfuhr: „Ich habe schon viele Werwölfe in unserem Reich unter die Lupe genommen, wenn ich es mal so ausdrücken darf, und nur die wenigsten haben sich Mühe gegeben, den Ansprüchen gerecht zu werden.“
„Das heißt, ihr entscheidet, ob ich zur Fürstin tauge oder nicht. Und wenn ich euren Ansprüchen nicht gerecht werde?“
„Zwei meiner Vorgänger wurden getötet, weil den neuen Herren ihr Urteil nicht gefiel“
„Ich frage mich, warum.“
„Nichtsdestotrotz steht und fällt mein Urteil mit Eurem Betragen. Lasst mich nur hier und da einige Beobachtungen machen, um gerecht zu urteilen. Gemäß dem Fall, das ihr gewogen, gemessen und begutachtet werden und das Urteil negativ ausfällt, wird Euch der Titel aberkannt. Dann gehe ich wieder und könnt weiterhin hier residieren, wie es Euch beliebt. Doch die Konsequenzen würden… sich bemerkbar machen.“
Claudile war schlau genug, nicht zu fragen, was genau dann passieren würde. Bestenfalls würde man sie einfach gegen einen neuen Fürsten austauschen. Schlimmstenfalls davonjagen. Sie hatte genug Vorstellungskraft, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Plötzlich wurde ihr heiß und kalt.
Sie verbeugte sich leicht und bemühte sich um einen unterwürfigen Ton: „Ich denke, ich habe verstanden.“
Er nickte knapp und sah sie von unten bis oben an. „Interessante Garderobe, die Ihr da habt.“
„Nun, wisst ihr…“
„Frauen sind in der Adelshierarchie nie selbstständige Menschen. Wenn sie auch nicht Sklaven sind, so sind sie auf sozialer Ebene und auch juristisch eher als unfreie Menschen zu betrachten. Sie werden immer nur in Bezug auf die umgebende Familie gesehen und bewertet, das ist das Ergebnis des ersten Kapitels von Stüversand aus seinem Werk. Ein Ausbrechen aus dem vorgegebenen Rollenbild wurde und wird negativ bewertet, eine Erfüllung der gewünschten Rolle wird nicht nur positiv gesehen, sie hat auch rechtliche Auswirkungen: Je mehr Kinder einer Frau das Erwachsenenalter erreichten, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Frau das „ius liberorum“ zuerkannt wurde: Sie wurden frei von der sogenannten Geschlechtsvormundschaft.“
„Meint er, ich solle viele Kinder bekommen? Nur, um dann über mich selbst bestimmen zu können?“
„Das wäre gesellschaftlich akzeptabel.“ Er nickte freundlich und deutete auf ihre Männerhose. „Beginnen wir doch mit dieser unangemessenen Tracht. Wo ist eure standesgemäße Bekleidung?“
„Die Gesellschaft kann mich mal“, platzte es aus ihr heraus.
Francesco stand hinter Sir Reynold und machte mit Gesten deutlich, was er von ihrer Äußerung hielt.
Sir Reynold verzog keine Miene dabei. „Adelige sind unter anderem auch „Ordnungshüter“. Wenn nicht eine Instanz da ist, die dafür Sorge trägt, dass geltende Gesetze eingehalten werden, dann hat die Gesellschaft ein Problem! Ich verweise auf Marta III. aus dem Königsgeschlecht und Fürst Philipp den Jakobiner als Beispiel. Beide hielten die Normen nicht ein, fordern damit lautstark die Ordnung heraus. Ihre Geschichte nahm ein schnelles Ende.“
„Wie meint er das, Francesco?“
„Er meint, dass du als Vorbild fungierst.“
„Bemüht Euch ruhig redlich“, warf Sir Reynold lächelnd ein. „Ich werde noch den ganzen Tag hier sein. Nun gut, dann besichtige ich jetzt die Burg. Euer Zuhause.“
Gewogen, gemessen…
Verdammter Mist! Ausgerechnet.
Der Finger des Aristokraten strich prüfend über einen Bilderrahmen. „Ihr seid noch nicht lange hier tätig?“ Mit angewiderten Gesichtsausdruck begutachtete er das Resultat und runzelte leicht die Stirn. „Wo sind Eure Angestellten? Die Küchenmagd, ein Diener, der Gärtner…“, er vollführte eine Geste und drehte sich einmal im Kreis. „Alles wirkt so… unfertig.“
„Wie kommt es, das hier jetzt hier auftaucht?“
„Mir wurde zugetragen, dass ich baldmöglichst erscheinen darf“, antwortete er knapp. „Wie kommt es, dass Ihr nicht vorbereitet seid?“
Ich dachte, ich hätte noch Zeit, dachte Claudile bitter. Oh, das geht böse aus!
Francesco versuchte es mit Heiterkeit. „Wie wäre es mit einem schönen Wein und wir besprechen das alles bei einem lodernden Feuer im Kamin?“ Nach den Schweißperlen aufs einer Stirn verstand Francesco sehr gut, was hier gerade passierte. Das war eine Prüfung – vielleicht die Prüfung ihres Lebens, und Claudile hatte sich nicht genügend darauf vorbereitet.
Das war nichts, das man mit roher Gewalt oder mit schönen Worten beheben konnte.
Natürlich wurde es noch schlimmer.
Just in dem Moment wurde es laut. Infernalischer Lärm drang aus der Küche und ließ Claudile hochschrecken. Was denn jetzt?
In der Küche wurden sie fündig. Auf der einen Seite standen die Glückliche Bettina und ihre sechszehn Kinder und ein Mann, der sie im Arm hielt und auf der anderen Seite Fritz, der Haushalter, wie er Töpfe und kleine Fässchen vor sich auf dem Tisch aufgereiht hatte.
Claudile, Francesco und der Magistrat sahen sich fragend an und stellten sich dazu.
„Ich habe nichts dergleichen gestohlen“, sagte gerade Bettina. Die Farbe in ihrem Gesicht wechselte ins Fleckige. Der Mann neben ihr musste ihr Gatte sein, mutmaßte Claudile, denn er nahm sie beschützend in den Arm und versuchte sie zurückzuhalten.
Fritz stützte die Fingerknöchel auf den Tisch vor sich und beugte sich vor. „Ach, jetzt habe ich wohl keine Augen mehr im Kopf, wie? Was für eine Frechheit! Die meisten von euch können froh sein, dass ihnen jemand überhaupt eine Arbeit gibt. Halunken, Diebe, Schnorrer! Mir reicht es endgültig mit euch!“
„Alles ist ruhig und friedlich!“ beeilte sich Claudile zu sagen und wollte den Gast hinausbegleiten, doch mit unverhohlenem Interesse wich er ihrem Arm aus und stellte sich näher zum Haushalter. Sein süffisantes Lächeln wirkte sehr entmutigend. „Probleme mit der Belegschaft, guter Mann?“
„Ich war von Anfang an dagegen, diese“, Fritz holte tief Luft und deutete auf die Familie, als wäre sie Abfall in seinen Augen, „diese Taugenichtse einzustellen! Ich weiß, was sich gehört! Ich hatte darauf bestanden, nur ausgebildetes Personal einzustellen. Aber hat man auf mich gehört? Nein, natürlich nicht…“
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