„Gute Güte“, schniefte Francesco. „Das mache ich nicht weg.“
Um zwölf Uhr fand Claudile die nötige Kraft und die Energie, um endlich aufzustehen und sich zu waschen. Als sie zurück in ihr Zimmer kam, war das Malheur bereits verschwunden – nur ein feuchter Fleck auf dem Teppich zeugte von ihrem ungezügelten Nachtleben. Auf dem frisch gemachten Bett lagen frische Klamotten, ein Tablett mit einem Kräutertee und frisches Brot vom Vortag. Sie schnüffelte kurz.
Sie hatte Fritz richtig eingeschätzt. Der Mann überlebte, weil er ein Wetterhahn war und immer darauf achtete, wohin der Wind wehte, und derzeit wehte er in ihre Richtung. Er hatte sogar an Socken und Unterhose gedacht, obgleich das nicht zu seinen Aufgaben gehörte. Eine aufmerksame Geste.
„Möchtet Ihr Frühstück, Herrin?“ Fritz sah sie von der Tür freundlich an und deutete hinter sich auf die Treppe nach unten. „Ich kann euch etwas zubereiten, wenn Ihr wollt.“
„Danke, Fritz. Aber ist das nicht eher die Aufgabe von Bettina?“
„Darüber wollte ich mit Euch reden“, sagte der Haushalter. „Die Glückliche Bettina ist wohl kaum die Richtige. Ich würde mich mit einem Schreiben nach Hrolung aufmachen, um dort an der Städtischen Schule für Zofen und Hebammen eine geeignete Magd mit tadellosem Ruf suchen zu lassen. Es würde nur zwei Wochen dauern, …“
„Ich sehe dazu keine Veranlassung.“
„Sie ist eine Bürgerliche…“
Ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Brust.
„Das sind Mägde im Allgemeinen“, wies Claudile zurecht. „Ich brauche keine Küchenmagd mit blauem Blut, ich brauche jetzt eine geeignete Kraft. Die Glückliche Bettina wurde von Francesco gestern eingestellt.“ Sie besah sich im Spiegel und zupfte an ihren roten Locken. „Schockiert, Fritz?“
„Erstaunt, Herrin.“ Sein Lächeln löste sich allmählich auf. „Wir müssen an der Etikette festhalten. Und diese vielen Kinder ! Empfindet Ihr das nicht als störend?“
Die Art, wie er „Kinder“ sagte, gefiel ihr nicht.
Ganz und gar nicht.
„Nein.“
„Warum?“
Claudile richtete sich kerzengerade auf. Langsam ging ihr Fritz wirklich auf die Nerven.
„Wenn ich Francesco richtig verstanden habe, haben wir gestern viele aus der Stadt eingestellt. Ich beabsichtige nicht in nächster Zeit eine Dinner-Party zu geben, nur um dann mit dem Finger auf die Küchenmagd zu zeigen und zu sagen: Wusstest ihr schon, dass unser Personal eine tadellose Ausbildung hat? Es kümmert mich nicht.“
„Nein, offensichtlich nicht“, murrte Fritz und versuchte es sogleich anders: „Dürfte ich in einer delikaten Angelegenheit mit Euch sprechen?“
Claudile schmerzte noch immer der Kopf. „Nein, Fritz. Jetzt gerade nicht. Ich gehe nach draußen auf den Markt. Bisschen frische Luft schnappen.“
„Ihr würdet mit den gewöhnlichen Bürgern auf einem Platz sein“, platzte es aus ihm heraus.
Claudile wandte sich vom Spiegel ab. „Keine Sorge, Fritz. Sie werden mich schon nicht auf ihr niedriges Niveau herabziehen. Du musst lernen, die Angelegenheit etwas entspannter zu sehen.“
Sie wandte sich um, doch da war Fritz schon verschwunden. In der Ferne hörte sie ihn immer schneller gehen.
Die Glückliche Bettina gehörte zu den Menschen, die mit wenigen Dingen im Leben sehr zufrieden waren. Wenn die Ernten gut waren, alle Familienmitglieder gesund und alles seine Ordnung hatte, war es gut. So einfach. Die Mutter von sechszehn Kindern reichte Claudile ein gegrilltes Eichhörnchen am Spieß: „Die Stände sind gut gefüllt - wie die Münzbeutel der Leute. Eure Ladyschaft habt ein schweres Erbe angetreten“, sie biss von Spieß ab, kaute lange und schluckte langsam, bis sie hinzufügte: „Wie kommt Ihr mit den Leuten zurecht?“
Claudile starrte kurz zum Eichhörnchen am Spieß. „Mehr kann ich nicht tun, als ihre Sorgen etwas zu lindern.“
„Seid Ihr glücklich hier?“
„Ich erledige meine Pflichten genauso, wie wir es von euch erwarten.“
„Das ist keine Antwort.“
„Du bist erstaunlich offen mir gegenüber…“
„Verzeiht, Fürstin.“ Sie lächelte entschuldigend. „Als Mutter weiß ich, wann es Zeit ist zu reden. Das ist der einsamste Ort der Welt, wenn man keine Freunde hat. Darum solltet Ihr Euch fragen, ob Ihr hier seid, um anderen etwas zu beweisen, oder um Euch etwas zu beweisen?“
Claudile schluckte kurz, sah auf den Spieß und gab ihn weiter an eines der Kinder von Bettina, die wie Entenküken stets an ihrer Seite zu weilen schien. Das Kind gluckste fröhlich und grabschte nach dem Spieß. „Mir selbst.“
„Das ist gut“, bemerkte Bettina und zeigte auf ein Mädchen, das etwas abseits stand. „Das ist meine Tochter dort drüben. Isabelle kommt jetzt in ein Alter, in der sie vermittelt werden muss. Sie kann gut kochen, saubermachen und auf die anderen Kinder aufpassen. Sie ist in letzter Zeit immer etwas zerstreut. Es gibt manchmal Dinge, die man einer Mutter nicht anvertraut.“
Claudile sah zu ihr herüber. Eine kleine schmächtige junge Dame mit glatten schwarzen Haar starrte zum Himmel und schien ganz in ihrer Welt versunken. „Du willst, dass ich mal mit ihr spreche?“
„Wenn Ihr kurz Zeit hättet“, beeilte sich Bettina hinzuzufügen. „Vielleicht bringt Euch das auch auf andere Gedanken.“
Claudile fuhr sich über den schmerzenden Kopf und wollte am liebsten nur fort von hier – irgendwo, wo der Schmerz einfach aufhörte. Trotzdem ermahnte sie sich selbst, sich zu zeigen. Sie nickte verstehend, schlenderte herüber und setzte sich zu dem Mädchen. „Woran denkst du?“
Isabelle verneigte sich knapp. „An die Welt, Herrin.“
„Wie es dort draußen ist?“
Ihre Blicke wanderten zum Himmel. „Kann ich auch Fürstin werden?“
Das war es also. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben. „Ich weiß, es ist schwer hinzunehmen, aber du wirst nie Fürstin sein, denn dein Blut definiert dich. Du bist hier geboren, du wirst hier arbeiten und du wirst hier heiraten und Kinder bekommen.“
Ein Schatten legte sich auf ihren Zügen. „Werde ich hier sterben?“
„Eines Tages, ja. Aber du hast eine große Familie, eine gute Mutter und einen guten Vater. Du weißt, wo sie sind. Willst du wissen, wo mein Vater ist?“
Isabelle blickte sie fragend an.
„Mein Vater ist der Große Khan von Norfesta. Er ist fort. Er verschwand einfach. Ich vermisse ihn.“
„Das ist ungerecht.“
„Ja.“ Claudile stand auf und sah sie prüfend an. „Ich beneide dich, Isabelle. Aber das ist ein Geheimnis zwischen uns, einverstanden?“
Das Mädchen nickte zaghaft.
„Geh nun, und habe Spaß. Es reicht, wenn sich die Erwachsenen Gedanken über diese Welt machen.“
Das Mädchen zögerte kurz. „Darf ich Euch etwas fragen?“
Claudile nickte.
„Wie ist es so?“
„Ein Werwolf zu sein?“
„Fresst ihr Menschen?“
Claudile stöhnte besorgt. „Nein, ich glaube nicht.“
„Ihr glaubt nicht...?“
„Ich tue es nicht“, stellte sie klar. „Meine Brüder sehen das anders, aber ich mag Reh oder mal ein Huhn. Wildschwein ist auch nicht zu verachten. Aber einen Menschen habe ich noch nie gegessen. Stelle dir vor“, sie setzte sich wieder und zeigte auf den nahen Wald, dessen Kiefern sich sanft im Wind bewegten, „du fühlst den Wald und den Wind um deinen Körper. Du riechst die Spuren der Tiere und musst nichts fürchten, denn selbst die Bären fürchten deinen Zorn. Du atmest schneller, kannst selbst die Vögel im hohen Geäst hören und die Kälte des Winters ist nichts als ein zarter Winterhauch. Freiheit . Kraft. Dominanz.“ Sie blickte das Mädchen vor sich an und strich ihr sanft über das Gesicht. „ Einsamkeit . Du ahnst nicht, wie einsam man ist. Selbst in einem Rudel gibt es Streit und Neid. Das ist der Preis.“
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