„Wie wäre es mit einer Schönheitsoperation?“, hätte Cornelia am liebsten erwidert, doch sie erinnerte sich an die Worte ihrer Freundin, die besagten, wie wichtig es sei, Privatleben und Beruf zu trennen. Also hielt sie ihren Mund und tat, was sie tun konnte. Sie nahm sich vor, die Haare am Oberkopf gar nicht zu schneiden, obwohl sie wusste, dass der gnädige Herr sich das nächste Mal darüber beklagen würde, wie unmöglich lange dieser Bereich doch sei, da die Frisur an diesem Punkt keinen Stand hätte.
Und dennoch, der Ehrlichkeit halber musste sie sich selbst eingestehen, dass Herr Eisblicker mit diesem Kurzhaarschnitt aussah, als würde ihm gerade eine Kartoffel oberhalb des Mundes herauswachsen.
Marcos Kunden, diejenigen, die er sich innerhalb der kurzen Zeit, die er im Salon beschäftigt war, durch Weiterempfehlungen geangelt hatte, waren dagegen sehr locker und freundlich. Sie fragten ihn, wie es ihm bei der Arbeit erginge, wie es um sein Liebesleben bestellt sei, usw.. Eine junge Dame meinte sogar, sie verstünde gar nicht, wie so ein hübscher junger Mann sein Dasein als Single fristen würde, woraufhin er aufs Dunkelste errötete. Ein wenig neidisch hatten Conny und Casmy sich die Gespräche zwischen Marco und seinen Kunden angehört. Was hat dieser Mensch nur an sich?, fragten sie sich, obwohl sie die Antwort genau kannten. Die Frauen lagen ihm zu Füßen, und die Männer empfanden ihn als Kumpel. Sein Charme, sowie sein Aussehen begeisterten das weibliche Geschlecht des Klientelles. Die Herren mochten sein sichtbar eitles Styling, in dem sie sich selbst spiegelten, oder mit dem sie sich verglichen. Casmilda und Conny beruhigten sich des Öfteren mit dem Gedanken, Marco habe seinen Erfolg einzig und allein seinem Geschlecht zu verdanken. Trotzdem wussten sie über den Vorwand dieses Gedankens Bescheid, der einzig und alleine darauf abzielte, ihren persönlichen Neid zu verdrängen.
Gegen Mittag herrschte ein reges Treiben im Geschäft. Die Kundschaften forderten von ihren Stylisten Höchstleistungen, was ihre Friseurkunst anbelangte, verhielten sich an diesem Tag wieder einmal ganz besonders heikel, und kommandierten das Personal herum. Der Vormittag schien nur die „Ruhe vor dem Sturm“ gewesen zu sein. Die unausgeschlafene Conny wurde von den Kunden beinahe regelrecht schikaniert, was auch mit ihrem Mangel an Konzentration zu tun hatte. Casmilda dagegen spürte ihren fehlenden Schlaf der letzten Nacht kaum. Um 11:30 spielte es im Radio einen Song, der Cornelia an Daniel erinnerte. Zu diesem Lied hatten sie bei ihrem zweiten Treffen getanzt. Ein verträumtes Lächeln zierte ihre Lippen und sie schmolz dahin, als ihre Kundin, Frau Mutschmay, rief: „Vorsicht, nur die Spitzen schneiden, Sie junges, törichtes Ding!“
„Ähm, Verzeihung Frau Mutschmay, ja, nur die Spitzen, kein bisschen mehr!“ Conny gestand sich ein, beinahe ein wenig zu viel als „ein Bisschen“ abgeschnitten zu haben, zumindest war sie ziemlich knapp davor gewesen, es zu tun.
Sexuell orientierte Gedanken waren in diesem Moment überhaupt nicht angebracht, doch Marco starrte Casmy unentwegt an, sooft er das nur konnte, während er seinem Kunden, Herrn Langkrämser, blonde Strähnen ins Haar strich.
„Vorsicht, nicht zu breit, Sie Träumer!“, meckerte dieser, „wenn die Strähnen zu breit sind, könnte jemand die künstliche Nachhilfe bemerken.“
Herr Langkrämser war immer schlecht gelaunt, einer der wenigen Kunden, die auf Marcos charmante Art nicht reagierten. Er war auch einer der wenigen, dem Marcos weibliche Gesten auf die Nerven gingen, aber er wollte trotzdem bereits zum zweiten Mal von ihm bedient werden, weil er sehr gut beraten, schneiden und färben konnte. Manch anstrengender Besucher des Salons jammerte natürlich nur, um seinen Frust loszulassen.
„Nein, mein Teuerster, ganz bestimmt nicht, versprochen!“, meinte der junge Stylist mit einer balett-ähnlichen Handbewegung dazu schweifend, worauf Casmilda wie erstarrt in die andere Richtung schaute. Ist mein Herzallerliebster nun doch homo – oder bisexuell?, fragte sie sich.
Eine gewisse Neugierde ergriff von ihrer Konzentration Besitz. Doch blitzschnell besann sie sich eines Besseren und lenkte ihre Gedanken wieder auf die Arbeit. Frau Tüttenleut hielt ausnahmsweise ihren Mund, weil sie sich am Waschbecken entspannte, während Casmy ihr eine wohltuende Kopfmassage genehmigte. Sie dachte wieder an ihren Sex mit Valetta. War sie selbst lesbisch? War das wichtig? Wenn sie das Cornelia erzählen würde, was würde diese davon halten? Casmy blickte kurz zu ihr hinüber.
Diese schien sich vollkommen auf den Kopf ihrer Kundin zu konzentrieren, als Frau Semmelbrack rief: „Wenn Sie sich bitte ein wenig mit meiner Dauerwelle beeilen würden, ich habe nicht den ganzen Tag für diesen Salonbesuch reserviert!“ Conny nickte nur lächelnd und verständnisvoll. Sie hatte sich so sehr beeilt, die Frisur von Frau Mutschmay fertigzustellen, da diese ebenfalls nicht unbedingt viel Zeit für ihren Salonbesuch mitgebracht hatte, und nun folgte schon wieder eine Ohrfeige.
Casmilda schweifte in Gedanken. Sie war die einzige, die sich Träumerei zu diesem Zeitpunkt erlauben durfte, da Frau Tüttenleut gerade eine Handmassage erhielt, während ihre Haarpflegepackung einwirkte. Ihre Kollegen war alle beschäftigt. „Reiß dich zusammen, Casmy,“ führte sie einen inneren Monolog, während sie die Hände ihrer Dame knetete, sodass diese mit offenem Munde dahindösend beinahe zu schnarchen begann, „es ist in diesem Moment nicht relevant, ob Marco sich zu Männern hingezogen fühlt oder inwiefern Valettas sexuelles Interesse das deinige vielleicht verändern wird“. Die jungen Stylistinnen arbeiteten in einem Haarstudio erster Klasse und dachten an ihre privaten Problemchen. Es grenzte an ein Wunder, dass noch keine von den anwesenden Kunden verschnitten, verfärbt, oder „verwickelt“ war.
Casmilda beendete die Massage, legte die Hand der Kundin zurück auf deren Schoß und merkte erst jetzt, dass diese richtiggehend eingenickt war. Sie lag entspannt auf dem Handtuch, das ihren Hals auf dem Waschbecken stützte. Casmy nutzte die kurze, von ihr selbst so definierte Verschnaufpause und ging schnell nach draußen vor den Laden, um sich eine Zigarette zu genehmigen, wobei sie die Packung und das Feuerzeug immer in der untersten Lade ihres Arbeitswagens verstaut hatte. Sie zog hastig an ihrem Glimmstängel, und warf zwischenzeitlich einen Blick in Frau Tüttenleuts Richtung. Zwei Minuten später musste sie ausdämpfen, weil ihre Kundin nach ihr rief und mit bösen Blicken und starr ausgestrecktem Finger auf ihre Armbanduhr deutete. Casmilda steckte sich schnell ein Pfefferminzbonbon in den Mund und betrat wieder den Laden. Larcy warf ihr ebenfalls einen vielsagenden Blick der Dominanz zu, so als würde er sagen: „Beeil' dich, wir haben noch einiges zu tun!“ Casmilda spülte die Pflege ab, trocknete das kaputte Haar ihrer Kundin vorsichtig ab, wobei diese wie immer Rufe des Leidens von sich gab, unabhängig davon, wie vorsichtig sie mit dem Handtuch abgetupft wurde, und schnappte sich ihre Schere, um einen erstklassigen Schnitt zu kreieren, wie sie sich fest vornahm.
Herrn Larcy Biskmer blieben die Klagen der Kunden nicht verborgen. Er kannte sie wie seine Westentasche, da er ein guter Beobachter war, und obwohl er wusste, wie snobistisch und pingelig die Gesellschaft des ersten Bezirks sein konnte, merkte er, dass sie sich an diesem Tag teilweise wirklich unruhiger als sonst verhielten. Trotz seines männlichen Geschlechts besaß er eine zu bewundernde, stark ausgeprägte Multitasking-Fähigkeit. Er konnte am Geschäftstelefon hängen und gleichzeitig Farbe auftragen, sowie nebenbei registrieren, was im Salon vor sich ging, um ein Beispiel zu nennen.
Sein Geduldsfaden riss schließlich, er hatte sich dieses Gezeter seit 10 Uhr morgens zu Gemüte geführt.
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