Ich sage jetzt in Gedanken zu meinem Vater: „Ich verstecke dich nicht mehr. Was auch immer du getan hast und was auch immer dein Grund dafür waren, es bleibt deine Sache. Du musst selbst dafür einstehen. Ich will frei sein von deiner Schuld.“ Diese neu gewonnene Haltung ermuntert mich, sein Leben zu beschreiben.
Heute leben wir in einem Rechtsstaat, in dem vor der Verurteilung eines Menschen immer auch nach Gründen, Motiven und Vorgeschichte gefragt wird. Rückblickend frage ich mich: Welche Rolle spielte die familiäre Prägung und der damals herrschende Zeitgeist beim Handeln meines Vaters? Wie wird ein junger Mensch damit fertig, wenn er als Soldat sein Leben riskiert, im Glauben, Volk und Vaterland zu verteidigen, und alle Ideale plötzlich nichts mehr wert sind und er sich für politisch und menschlich verwerfliche Ziele hatte missbrauchen lassen?
Wie kann ich mich selbst lieben, wenn ein Teil meines Wesens dem meines Vaters gleicht? Die Neigung zur Herrschsucht von meiner Großmutter und meinem Vaters finde ich auch in mir. Die Lust, schnell Entscheidungen zu treffen, ohne sie vorher zu kommunizieren, kann eine Stärke aber auch eine Gefahr sein. Ich wollte nie wie mein Vater werden. Zur Beruhigung versicherte meine Mutter mir, ich würde im Wesen ihrem Vater gleichen. Mein Großvater mütterlicherseits ist mir ein Vorbild. Er gibt mir Orientierung im Denken und Handeln.
Immer wieder frage ich mich, wie sich gebildete Menschen von einem psychopathischen Menschen verführen lassen konnten und ihm bedingungslos gefolgt waren? Einem Menschen, der mit einem Programm der Arbeiterklasse gestartet hatte, der den deutschen Nationalismus gepredigt und unbedingten Gehorsam gefordert hatte, sich für die „Arische Rasse“ begeisterte, obwohl er selbst nicht Deutscher war und auch in keiner Weise „arisch“ ausgesehen hatte?
Sind die Antworten vielleicht ansatzweise in den heutigen USA, Brasilien oder gar in den rechtsgerichteten politischen und gesellschaftlichen Strömungen europäischer Demokratien einschließlich Deutschland zu suchen? Müssen wir versuchen, die aktuellen Entwicklungen zu verstehen, um die Motive von Nebentätern und Mitläufern der Nazizeit rückwirkend zu begreifen? Oder eher umgekehrt?
In meinem Zuhause wurde nie über die Kriegszeit gesprochen. Auch persönliche Probleme wurden vor den Kindern nie erörtert. Das machte man nicht, man hat einfach nur funktioniert. Es herrschte Schweigen über die Vergangenheit. Aus Angst, vor Scham? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber: Das Verschweigen der Vergangenheit ist genauso eine Lüge, wie das Schönreden ebendieser.
Der Vater meiner Mutter war ab Oktober 1939 Oberstabsveterinär der Wehrmacht und in Warschau tätig gewesen. Das ist ein gehobener Dienstgrad und ich denke, dass man diesen nur erlangt, wenn man systemtreu war. Also dem Nationalsozialismus nahestand. Bereits 1935 hielt er in Pommern einen Familientag ab. Es gab dazu einen ausführlichen Pressebericht mit der Aussage: „Aus dem Wissen um das eigene Werden der Sippe wächst die Kraft der rassischen Verwurzelung und der Tradition. Daraus lässt sich erkennen, wie das Schicksal der Sippe mit dem Schicksal des Volkes verbunden ist.“ Die Wurzeln dieser Bauernfamilie gehen bis ins 12. Jahrhundert zurück. Presseartikel und eine Einladung zum Familientreffen, die mit „Heil Hitler“ unterschrieben war, fand ich erst später im Nachlass. Über die Vergangenheit meines Großvaters wurde nicht gesprochen, alle Fragen an meine Mutter oder meinen Vater blieben ohne Antwort.
Warum konnte mein Vater keine Gefühle zeigen? Sein Abschied von mir und seinem Leben war geschäftsmäßig organisiert. Warum hatte er meine Schwestern nicht informiert? Warum bekam ich kein anerkennendes herzliches Wort zum Abschied zu hören? Wo hatte diese Kriegsgeneration ihre Gefühle verloren? Aus den Unterlagen geht hervor, dass mein Vater vor dem Krieg scheinbar ein ganz anderer Mensch war.
Warum erzählen meine Schwestern ihren Kindern, der Großvater sei ein Kriegsverbrecher gewesen? War er das wirklich? Wenn ja, warum wurde auch nach der Inhaftierung und Rückkehr aus Ravensburg nicht offen über die Anklage und die Aufhebung von dieser Anklage gesprochen? Ein Gerichtsverfahren wurde offensichtlich nie eröffnet. Daher gab es weder eine Verurteilung noch einen Freispruch. Nach dem damals geltenden Recht war sein Handeln legitimiert, wenn auch moralisch und ethisch inakzeptabel. Mit seiner moralischen Schuld musste er selbst fertig werden. Wie ist es aber mit uns, den Kindern? Wir bekommen einen Teil seiner Schuld aufgebürdet, weil wir kollektiv mit ihm verurteilt werden. Hat er das je begriffen? Eine Entschuldigung meines Vaters habe ich nie vernommen.
Warum schweigen die Eltern? Das Schweigen führt zu Vermutungen, die uns Kinder in der Ungewissheit zurücklässt, da könnte etwas ganz Schlimmes gewesen sein. Wir drei Kinder hatten denselben Vater gehabt, aber nicht den gleichen erlebt. Jeder hat seine speziellen Erlebnisse in der Familie anders verarbeitet. Wenn ich mit meinem Vater beim Jagen auf der Jagdhütte war, kam er manchmal aus sich heraus und erzählte mir fragmentarisch einige Erlebnisse seiner Vergangenheit. Er berichtete aus der Jugend, aus der Studentenzeit, von seinen wilden Liebesabenteuern und natürlich von den vielen Jagderlebnissen. Aber niemals sprach er über die Kriegszeit. Krieg war tabu, jede Frage danach war verboten, ohne, dass das Verbot jemals laut ausgesprochen wurde. Die Mauer des Schweigens war laut genug.
Durch die gemeinsame Zeit bei der Jagd habe ich ein tieferes Verständnis für meinen Vater entwickelt als meine Schwestern, die ihn nur als autoritär und jähzornig erlebt hatten. Als er, wie sich später zeigen wird, gewandelt und geläutert aus Ravensburg zurückkam, waren meine Schwestern bereits außer Haus und wohnten an ihren jeweiligen Studienorten. Sie kamen nur noch zu Kurzbesuchen nach Hause.
75 Jahre nach Kriegsende und 42 Jahre nach seinem Tod ist es nun für mich an der Zeit, dass ich über das Leben meines Vaters schreibe. Ich orientiere mich beim Schreiben stark an seinen gesammelten Unterlagen, die ich zum ersten Mal sichte. Zugegeben, ich hatte zunächst ein wenig Angst, etwas zu entdecken, was ich lieber nicht entdecken möchte.
Durch diese Arbeit veränderte sich mein bisheriges getrübtes Bild von meinem Vater und besonders auch von meiner Mutter. Ihre seelische Stärke und die enorme Liebe zu meinem Vater habe ich früher nicht bewusst wahrgenommen. Eine Liebe, die so stark war, dass sie es schaffte, alle Schicksalsschläge zu ertragen, nicht zu zerbrechen, sondern sich in ihrer Liebe noch zu festigen. Beide entdecken sich in ihrer Verbindung neu. Sie erkannten, dass sie zu lange geschwiegen und zu wenig miteinander gesprochen hatten. Erst in den Briefen aus dem Gefängnis finden sie wieder zueinander. Mein Vater hat sich in der Haft ganz offensichtlich zum Positiven entwickelt.
Was mein Vater nicht aufgeschrieben hat, versuche ich, in seinem Sinn zu schreiben. Ich als sein Sohn habe das Gefühl, manches nachvollziehen zu können, was er empfunden und was ihn bewegt hat. Doch in einer dokumentarischen Wahrheit mit einem Anteil von etwa zwei Dritteln überwiegt eindeutig die Dichtung. Vielleicht aber kommt die Dichtung der Wahrheit sehr nahe. Es hätte ja schließlich so sein können.
Danksagung
Ich danke meiner Frau Elisabeth, die in vielen Gesprächen und mit kritischen Fragen wertvolle Anregungen gab.
Personen der Familie
Autor: Carl-Ludwig Reuss
Ich-Erzähler: Dr. Lutz Reuss
Ehefrau: Anna-Lena
Töchter: Anna und Carina
Sohn: Carl
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