Franz Josef Strauß verrät und verleumdet Hans Hellmut Kirst bei den Amerikanern und verschafft sich selbst dadurch einen sogenannten „Persilschein“. Als Landrat und Vorsitzender der Entnazifizierungskommission erwirkt Strauß nach Kirsts Entlassung aus dem Lager 1946 ein zweijähriges Schreibverbot für den Schriftsteller. Die Frage nach dem Warum bleibt offen. Weiß Kirst Geheimes über Strauß oder ist es eine Anweisung der Amerikaner, die fürchten, er könne die Missstände im Internierungslager an die Presse bringen? Über den glorreichen Sieger schlecht zu sprechen oder zu schreiben, ist damals nicht erwünscht. Der Heiligenschein der Sieger soll unbeschädigt bleiben.
Im Gegensatz zum Opportunisten Strauß, stellt sich Kirst seiner Vergangenheit und arbeitet sie in vielen Romanen auf. Kirst ist für meinen Vater eine geistige Inspiration und wichtiger Gesprächspartner. Beide hinterfragen ihre Vergangenheit und ihre Verantwortung. Wie können sie mit dieser Schuld umgehen? Gibt es Sühne und Vergebung für das, was in der NS-Zeit geschah und an dem sie sich beteiligt haben?
Im Januar 1962, 17 Jahre nach Kriegsende, wird Lutz plötzlich als Kriegsverbrecher verhaftet. In Ravensburg sitzt er bis Ende Juli 1962 in Untersuchungshaft. Mit 54 Jahren steht er also erneut vor einem Scherbenhaufen. In dieser Zeit schreibt er vieles aus seinem Leben auf. Durch die einfühlsamen Briefe seiner Frau beginnt er, sich mit dem Neuen Testament und ganz besonders mit den Schriften von Dietrich Bonhoeffer zu beschäftigen. Er findet zu seinem Glauben an Gott zurück. Sein Leitsatz wird ein Vers von Bonhoeffer:
„In Dankbarkeit gewinne ich das rechte Verhältnis zu meiner Vergangenheit.
In ihr wird das Vergangene fruchtbar für die Gegenwart.“
Die Vorgeschichte
Frühlingsanfang, Dienstag, der 21. März 1978
Es ist früh um 6 Uhr, das Telefon klingelt. Der schrille Ton reißt mich aus den Träumen, die im Halbschlaf mitunter sehr spannend sein können. Ich bin kein geborener Frühaufsteher und als Student sowieso nicht. Noch etwas benommen höre ich die Stimme meines Vaters: „Du musst sofort kommen, mein Leben geht zu Ende und ich will dir noch einige Unterlagen geben.“ Koffer gepackt, Auto betankt und los geht’s – mit unguten Gefühlen und Gedanken im Kopf. Vor einem halben Jahr hatte er einmal so merkwürdige Andeutungen gemacht, dass er nicht mehr lange leben würde. Das hielt ich damals für eine Spinnerei, eine depressive Stimmung.
Gegen 13 Uhr bin ich dort. Nach kurzer Begrüßung meiner Mutter gehe ich zu ihm. In seinem etwas düsteren Herrenzimmer sitzt er am Schreibtisch, umringt von all seinen Jagdtrophäen und raucht Pfeife. Das ganze Zimmer ist erfüllt von würzigem Tabakduft. Vor ihm liegt ein Stapel Akten. Endzeitstimmung liegt schwer im Raum. Aufrecht sitzend, mit klarer Stimme, die keine Frage zulässt, erklärt er mir seinen Nachlass. Er schenkt mir seine goldenen Manschettenknöpfe mit den Grandeln des stärksten Hirsches, den er in seinem Leben erlegt hat. Den goldenen Ring mit einem blauen Saphir nimmt er von seinem Ringfinger. Dieser Ring war ein Heiligtum für ihn, er trug ihn immer voller Stolz und nur zu besonderen Gelegenheiten. Nach dem Tod seiner Großmutter Anna hatte sein Großvater Carl erneut geheiratet. Seine zweite Frau stammte aus einer adeligen Familie aus dem Baltikum. Sie hatte meinem Vater dieses Familienerbstück ihres Vaters vermacht.
Als große Überraschung übergibt er mir noch ein kleines Schmuckkästchen. Darin befinden sich ebenfalls goldene Manschettenknöpfe mit den Grandeln meines ersten Hirsches, seinem Abschieds-Hirsch, wie ich jetzt verstehe. Vor einem halben Jahr hatte er mich zur Hirschjagd in den Schwarzwald eingeladen, wo sein Cousin Forstamtsleiter war. Er sagte damals: „Bevor mein Leben zu Ende geht, will ich dir den Abschuss eines Hirsches schenken.“ Nun erkenne ich die Wahrheit seiner Ankündigung. Mein Vater hatte im vorherigen Jahr mehrere kleine Gehirnschläge gehabt und es war ihm klar gewesen, dass diese sich steigern würden.
Nach circa einer Stunde steht er auf und sagt mit leiser Stimme: „So, mein lieber Sohn, das ist genug, mehr kann ich dir nicht sagen, bring mich ins Krankenhaus. Deine Mutter soll vorerst zuhause bleiben. Ich will, dass Du mich alleine begleitest.“ Drei Tage später, am Donnerstag, dem 23. März 1978, stirbt mein Vater.
Warum schreibe ich das alles?
Als im Februar 2020 die Corona-Pandemie ausbricht, weltweit die Wirtschaft zusammenbricht, Ausgangsbeschränkungen unsere Beweglichkeit einschränken und das ganze soziale Leben auf den Nullpunkt gefahren wird, kehrt auch Ruhe und Besinnlichkeit ein. Keine auswärtigen Termine, keine sozialen Verpflichtungen, nur zu Hause bleiben und sich mit sich selbst beschäftigen. Das kann Fluch oder Segen sein. Meine Frau und ich beschließen, dass diese Zeit ein Segen für uns ist. Es ist eine Zeit der inneren Einkehr und der intensiven Gemeinsamkeit.
Ich mache etwas, das mir schon seit Langem im Kopf herumgeistert. Ich sortiere die Unterlagen meines Vaters. Er hatte viele davon. Er war anscheinend nicht nur Jäger, sondern auch intensiver Sammler gewesen. Ich finde Tagebücher seiner Jagderlebnisse, Aufzeichnungen aus dem Internierungslager, Aufzeichnungen aus dem Gefängnis in Ravensburg, Unmengen an Briefen, umfangreiche Notizen, ein Buch von Karl Vogel, einem Lagerkommandant in Garmisch sowie ein Buch von Hans Hellmut Kirst, in dem er das Leben im Internierungslager beschreibt.
Die Zeitungen sind im Moment voll mit Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges. Man berichtet über das großartige Verhalten der alliierten Truppen und über unsere Dankbarkeit für die Befreiung aus der Nazi-Diktatur. Die Amerikaner sind gekommen, um uns Demokratie und Menschlichkeit zu bringen. Die Amerikaner haben uns beim Aufbau einer neuen Ordnung geholfen. Die Kehrseite darf aber dennoch nicht verschwiegen werden, einige Soldaten haben die Amerikaner im Internierungslager in Garmisch-Partenkirchen auch ganz anders erlebt.
Die volle öffentliche Aufmerksamkeit gilt und galt schon immer den Opfern des Nationalsozialismus. Sie stehen im Zentrum der Betrachtung. Das ist richtig, das ist wichtig, das Leid und das Unrecht dürfen nicht vergessen werden.
Auch für mich, den Autor, ist es wichtig, herauszufinden: Wie kommen die Täter zurecht mit dem, was sie getan haben? Inwieweit können die Täter ihre Taten ausblenden oder verleugnen? Wie gehen sie mit ihrer Schuld um? Gelingt es ihnen, sich mit sich selbst zu versöhnen? Die hauptverantwortlichen Täter wurden in Nürnberg verurteilt. Was aber ist mit den „Nebentätern“? Denen, die sich darauf berufen, nach geltendem Recht gehandelt zu haben? Oder wie steht es um die Soldaten, die im Befehlsnotstand handelten, obwohl sie das Unrecht erkannten? Sind diese Soldaten Kriegsverbrecher?
War mein Vater ein Täter, ein Verbrecher? Wenn ja, inwieweit fühlte er sich schuldig und bereute seine Taten? Inwieweit werde ich, als sein Sohn, mit der Schuld meines Vaters fertig? Wie wirken sich diese Schmach und die gesellschaftliche Sippenhaftung auf mein Leben aus?
Auch im Jahr 2020 gibt es noch immer viele Vorurteile in der Gesellschaft. Eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Akteure und Akteurinnen, Schicksale und Hintergründe findet in der Öffentlichkeit kaum statt. Alles wird undifferenziert in einen braunen Topf geworfen und mit einem Deckel verschlossen. Eine ganze Generation wird kollektiv verurteilt. Dabei wäre es doch gerade heute enorm wichtig, sich – ohne das Furchtbare leugnen zu wollen – differenziert mit Motiven und Hintergründen der Nebentäter zu befassen. Damit sich die Geschichte nicht wiederholt.
Ich habe unter dieser kollektiven Verurteilung sehr gelitten. Sie hat mein eigenes Leben nachhaltig beeinflusst. Kann und darf es eine Vergebung für unsere Väter geben? Reicht es aus, dass der Vater seine Taten bereut? Ist ihm bewusst geworden, dass seine Taten auch auf seine Kinder und Enkel Auswirkungen haben können?
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