Die beiden Freunde blickten sich um. Die Einrichtung war karg, doch der Raum strahlte Behaglichkeit aus. An einer Wand reihte sich Buch an Buch in hellen Regalen. An der anderen hingen Landschaftsbilder – von Aileen gemalt, wie sie später erfahren sollten. Die Situation war an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Sie saßen da wie zwei begossene Pudel.
Wie gerne hätte sich Julian gerade diesem Mädchen mit seiner fein zurechtgemachten Strähnchenfrisur gezeigt.
„Ich mache gerade Tee. Wollt ihr auch …?“, fragte Aileen.
Die beiden waren sich einig, dass heißer Tee im Moment genau das Richtige wäre.
Sie hörten, wie Aileen in der Küche Tassen auf ein Tablett stellte und mit den Löffeln klapperte. Winston näherte sich Tim und hechelte.
„Ein Dobermann-Mischling“, sagte Julian mit Kennerblick. „Die sind nicht so wild, wie sie aussehen.“
Das konnte Tim nicht beruhigen. Das Tier mit dem schwarz-braunen Kurzhaarfell wirkte kraftvoll und war beachtlich groß. Aileen kehrte mit dem Tee zurück und nahm wieder Platz.
„Zieht euch aus!“, sagte sie unvermittelt. Als sie das Entsetzen in den Gesichtern ihrer Gäste sah, fügte sie rasch hinzu: „Das nasse Zeug macht euch noch krank.“
„Nein, nein, nicht notwendig“, stammelte Tim und errötete zart.
„Das trocknet auch so“, sagte Julian.
„Ihr braucht euch nicht zu genieren. Ihr seid nicht die Ersten, die es in diesem Tal böse erwischt hat.“
Um Julians Socken hatte sich eine kleine Pfütze auf dem Parkettboden gebildet. Es sah ja wirklich so aus, als wären sie nicht durch dieses Tal gewandert, sondern in ihren Kleidern zu diesem Haus hergeschwommen.
„Ich bringe euch Decken. Zieht euch aus! Ihr holt euch noch eine Verkühlung.“
Die Decken waren flauschig und dufteten nach Lavendel. Aileen zog sich diskret in die Küche zurück und kehrte mit einer Plastikleine zurück. Wenig später hingen die Kleider nahe dem Kamin.
„Milch? Auch Zucker?“, fragte sie.
Aileen war eines von diesen Mädchen, die mit Charme und Anmut Menschen anzogen, ohne sich darum bemühen zu müssen. Ganz ungeschminkt zog sie die Blicke auf sich. Tim und Julian kannten Mädchen, die sich für Selfies dicke Schichten Make-up ins Gesicht spachtelten.
Aileen ging in Fort William zur Schule. Ihre Mutter arbeitete dort im Krankenhaus, ihr Vater war Beamter, sie hatte keine Geschwister. Das Haus war eine ehemalige Bed-&-Breakfast-Unterkunft. Aileens Eltern nahmen schon seit Jahren keine Gäste mehr auf, da immer weniger Touristen durch das Tal von Glen Coe wanderten.
Dann erzählte Aileen von unheimlichen Begebenheiten in den Scottish Highlands. Hier würden häufig selbst erfahrene Tourengänger in den nebeligen und wetterunbeständigen Bergen verschwinden. Fast überall im Hochland wiesen „MISSING“-Plakate auf spurlos Verschwundene hin. Wanderer wurden aufgefordert, wachsam zu sein und Hinweise an die Polizei weiterzugeben. Die Fremdenverkehrsämter des Landes warnten ausdrücklich vor dem unbeständigen Wetter in den Highlands.
„Manchmal kommen Angehörige bei uns vorbei“, sagte Aileen. „Sie zeigen Bilder der Vermissten. Sie sagen, dass die Gegend sehr einsam ist und es doch möglich sei, dass der Gesuchte hier vorbeigekommen ist.“
Mitunter fand man unter Erde, Moos und Heidekraut Kleiderfetzen. Überwuchert, beinahe schon wieder vom Erdboden verschluckt. Kein Ausweis, kein Name gab Hinweis auf eine Person. Nirgends fanden sich Knochen. In seltenen Fällen stieß man auf Spuren der Vermissten. Wanderer entdeckten menschliche Überreste – aufgewühlt von streunenden Hunden, Füchsen oder Wildkatzen. Die schottische Wildkatze mit ihren markanten gelb-grünen Augen und dem buschigen Schwanz galt als harmlos. Gefährlich waren jedoch die zahlreichen Hundemeuten. Die Highlands waren ein beliebtes Jagdrevier. Immer wieder gingen dort Hunde verschiedener Rassen verloren, die sich in den Schluchten zusammenrotteten und Wanderer anfielen.
Julian schlug die Decke enger um sich, als könnte er sich damit vor dem soeben Gehörten schützen. Der Regen prasselte wie ein Trommelwirbel aufs Dach.
„Bei mir seid ihr in Sicherheit“, beruhigte Aileen. „Ein Glück, dass ihr mich gefunden habt.“
Hier saß ein Engel. Vielleicht sogar ihre Lebensretterin? Tim hatte schon oft von vermissten Jugendlichen aus Wien gehört. „Ich habe mich schon immer gefragt, wie Menschen einfach verschwinden können“, sagte er. „Sie verschwinden, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen.“
„Sie sind verschwunden“, sagte Aileen. „Aber sie sind immer da, die ganze Zeit.“
Das verstanden die beiden Freunde nicht. Bevor sie fragen konnten, lieferte Aileen einen Erklärungsversuch. Manche Menschen im Hochland glaubten, die Ursache für diese bedauernswerten Schicksale zu kennen: „Viele Highlander meiden dieses Tal, sie sagen, es sei verflucht.“
Als Aileen vom Mord an ihren Vorfahren erzählte, stockte sie manchmal, als versuchte sie, etwas zu beschreiben, für das es keine Worte gab. Im Glen Coe tötete der Clan der Campbells einst Angehörige der MacDonalds, darunter Kinder, Frauen und alte Männer. Im Morgengrauen eines klirrend kalten Februartages fielen sie über die Talbewohner her und zündeten ihre Häuser an. Fast 400 flohen im Schneesturm ins nahe Lost Valley, wo sie erfroren. Einige MacDonalds, darunter Aileens Verwandte, hatten nur deshalb überlebt, weil sie rechtzeitig gewarnt worden waren.
Das Massaker lastete noch heute auf dem Tal wie ein böser Fluch. Seither hieß es auch „Tal der Tränen“. Manchen erschien der Taleingang sogar als „Tor zur Hölle“. Die Geister der MacDonalds würden mit den später spurlos Verschwundenen noch heute ruhelos im Tal umgehen, hieß es.
Einen Moment lang hockte Aileen da, reglos, mit zusammengepressten Lippen. Dann sagte sie, dass sie den Namen ihrer Vorfahren mit großem Stolz trage und die Campbells für immer hassen würde.
Der folgende Donnerschlag ließ die Gläser in der Vitrine klirren und steigerte die unheimliche Atmosphäre.
Tim wollte das Gespräch in harmlosere Bahnen lenken. An einer Pinnwand hatte er mehrere Fotos mit Basketballspielern entdeckt. Natürlich war ihm auch der Basketballkorb vor dem Haus nicht entgangen. In seinem Wiener Verein war er Spielmacher und Topscorer.
„Du spielst …?“, fragte er und zeigte auf den Ball in der Ecke.
„Ich nicht, mein Freund.“
Julian war längst aufgefallen, dass auf den Fingerknöcheln ihrer rechten Hand NOAH eintätowiert war. Neben dem Ball stand ein Paar Basketballschuhe, die unmöglich Aileen gehören konnten, denn sie waren so groß, dass eine Katzenfamilie darin Platz gefunden hätte.
Wenn Aileen von Noah erzählte, erschien dieses besondere Leuchten in ihren Augen.
„Ich habe leider nicht so viel Talent wie er“, schmunzelte sie. „Aber wenn mein Freund hier ist, spielen wir ein Match. Meine Eltern und ich gegen Noah. Manchmal lässt er uns gewinnen.“
Tim war mit 1,86 Meter hoch aufgeschossen für seine 15 Jahre. Der wuchtige Center konnte seine Teamkameraden mit klugen Pässen in Szene setzen, die Würfe seiner Gegner blocken und blitzschnell auf Angriff umschalten. Der Trainer lobte seine gute Übersicht und sein hohes Spielverständnis. Selten verfehlte einer seiner Distanzwürfe den Korb.
Der Sturm tobte nun mit dämonischer Wut. Aileen strich sich mit einer geschmeidigen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann erzählte sie, dass in den unübersichtlichen Schluchten des Glen Coe zwei aus dem Gefängnis entsprungene Schwerverbrecher viele Monate unentdeckt geblieben waren. Sie hatten sich von Beeren, Pilzen und Quellwasser ernährt. Erst vor wenigen Tagen waren sie der Polizei in der Nähe von „Devil’s Staircase“ ins Netz gegangen.
Besonders eindringlich sprach sie über die Geheimnisse des Coe, diesen grün schäumenden Fluss, der sich durch das Tal schlängelte und in eine Felsspalte des Hidden Valley stürzte. Wie ein unterirdischer Wasserfall. Es ging vielleicht 10 oder 15 Meter tief hinab, ein tosendes, dunkles Loch, aus dem Nebelschwaden stiegen.
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