Man konnte nicht vernünftiger reden, als diese so einsichtsvolle Frau, und es ist schwer begreiflich, warum ihr Gatte ihr die Wahrheit vorenthielt. Aber schließlich hatte er vielleicht nicht unrecht. Wer weiß, ob die ungestüme Cornelia sich in Gegenwart von Ortik und Kirschef zu beherrschen gewußt hätte, wenn sie erfahren, wer sie seien und was sie zu thun gedächten!
So schwieg Herr Cascabel denn und verließ die Belle-Roulotte, um die Einrichtung des Cirkus in allen Einzelheiten zu überwachen, während Cornelia, von Kayette und Napoleone unterstützt, die Kostüme, Perücken und das übrige Zubehör musterte, welche bei der Vorstellung benützt werden sollten.
Unterdessen waren die beiden Russen, wenn man ihnen glauben wollte, damit beschäftigt, ihre Stellung als heimgekehrte Matrosen zu ordnen, - was eine Menge Schritte, Gänge und Laufereien erforderlich zu machen schien.
Während Herr Cascabel mit Clou arbeitete, die staubigen Cirkusbänke abreibend und die zur Bühne bestimmte Reitbahn kehrend, schleppten Jean und Xander die verschiedenen, bei den Kraft- und Geschicklichkeitsproben unerläßlichen Gegenstände und Utensilien herbei. Dann hatten sie sich mit dem zu beschäftigen, was der Impresario »seine ganz neuen Dekorationen« nannte, »in denen seine unvergleichlichen Künstler das schöne pantomimische Drama: Die Räuber des Schwarzwaldes spielten.«
Jean war trauriger als je. Er wußte nicht, daß Herr Sergius Graf Narkine sei, ein politischer Sträfling, der nicht in seinem Vaterlande bleiben konnte. In seinen Augen war Herr Sergius ein reicher Grundbesitzer, der auf seine Güter zurückkehrte, um sich dort mit seiner Adoptivtochter niederzulassen. Wie viel milder sein Kummer gewesen wäre, wenn er gewußt hätte, daß der Aufenthalt im Russenreiche Herrn Sergius untersagt sei, daß er wieder abreisen werde, sobald er seinen Vater, den Fürsten Narkine gesehen, daß er in Frankreich Schutz suchen werde, und zwar in Begleitung Kayetiens! In diesem Falle würde die Trennung wieder um einige Wochen hinausgeschoben werden, und während dieser Wochen durfte man noch bei einander sein.
»Ja!« sagte Jean sich immer wieder »Herr Sergius wird in Perm bleiben. und Kayette mit ihm!. Binnen einigen Tagen setzen wir unsern Weg fort. und ich werde sie nicht mehr sehen!. Teure kleine Kayette, du wirst im Hause des Herrn Sergius glücklich sein. und doch!.«
Dem armen Jungen brach fast das Herz, wenn er an all diese Dinge dachte.
Indessen war Herr Sergius um neun Uhr morgens noch nicht in die Belle-Roulotte zurückgekehrt. Freilich aber konnte man, wie Cornelia bemerkt hatte, ihn jetzt erst in der folgenden Nacht oder doch wenigstens zu so später Abendstunde erwarten, daß er keine Gefahr liefe, unterwegs erkannt zu werden.
»Dann,« dachte Herr Cascabel, »wird er nicht einmal bei unserer Vorstellung zugegen sein können!. Nun, um so besser!. Es wird mir nicht leid sein!. Sie wird ohnedies schön ausfallen, diese Vorstellung. das Debut der Familie Cascabel auf der Permer Bühne!. Über all diesem Verdruß werde ich meine Mittel einbüßen!. Ich werde grauenhaft sein in der Rolle des Fracassar, ich, der ich die Haut dieses Braven so gut ausfüllte!. Und Cornelia, die trotz all ihrem Gerede auf Kohlen stehen wird!. Und Jean, der nur an seine kleine Kayette denkt!. Und Xander und Napoleone, denen bei dem Gedanken an die Trennung das Weinen nahe ist!. Ach, meine Kinder, was für Figuren wir heute abend darstellen werden!. Ich kann eigentlich nur auf Clou rechnen, um die Ehre der Truppe zu retten!«
Und da Herr Cascabel nicht an einem Platze zu bleiben vermochte, kam er auf den Einfall, nach Neuigkeiten auszugehen. In einer Stadt wie Perm erfährt man schnell, was vorgeht. Die Narkines waren sehr bekannt in der Gegend, auch sehr beliebt. Falls Herr Sergius der Polizei in die Hände gefallen wäre, würde das Gerücht von seiner Verhaftung sich augenblicklich verbreitet haben. Man würde allenthalben davon sprechen. Der Gefangene würde sogar schon in die
Citadelle von Perm gebracht worden sein, um dort verhört zu werden.
Daher ließ Herr Cascabel Clou-de-Girofle mit der Adaptierung des Cirkus beschäftigt zurück und schweifte ziellos durch die Stadt, längs der Kama dahin, wo die Fährleute ihrer gewohnten Beschäftigung oblagen, in das obere und untere Viertel, wo die Bevölkerung ganz in ihre täglichen Arbeiten vertieft schien. Er mischte sich in die Gespräche. er hörte unbemerkt zu. Nichts!. Nichts, das sich auf den Grafen Narkine bezogen hätte!
Da auch dies ihn nicht hinreichend beruhigte, wandte er sich der Landstraße zu, die von Perm ins Dorf Walska führt und auf welcher die Polizei Herrn Sergius zur Stadt gebracht haben würde, wenn sie seiner habhaft geworden wäre. Und so oft er in der Ferne eine Gruppe von Fußgängern erblickte, bildete er sich ein, daß es der von einem Kosakentrupp eskortierte Gefangene sei.
In seiner Aufregung dachte Herr Cascabel nicht einmal mehr an seine Frau, seine Kinder, sich selber, welche im Falle einer Verhaftung des Grafen Narkine so arg kompromittiert sein würden! In der That, es würde den Behörden nur allzu leicht sein, die Umstände zu ermitteln, unter welchen Herr Sergius auf russisches Gebiet zu gelangen vermocht, und die wackern Leute, welche seine Heimkehr begünstigt hatten. Die Geschichte konnte der Familie Cascabel teuer zu stehen kommen!
Das viele Hin- und Hergehen des Herrn Cascabel und sein häufiges Stehenbleiben auf der Straße nach Walska hatten zur Folge, daß er nicht im Cirkus anwesend war, als gegen zehn Uhr morgens ein Mann dort erschien und ihn zu sprechen verlangte.
Clou-de-Girofle war gerade allein und bewegte sich in einer von der Reitbahn aufsteigenden Staubwolke. Er kam daraus hervor, als er jenen Mann gewahrte, der ganz einfach ein Musik war. Da Clou die Sprache des besagten Musik ebensowenig kannte wie dieser Clous Idiom, so konnten sie sich unmöglich verständigen. Clou begriff denn auch kein Sterbenswörtchen, als der Fremde ihm sagte, daß er mit seinem Herrn zu sprechen wünsche und ihn im Cirkus gesucht habe, bevor er zur Belle-Roulotte gegangen sei. Schließlich that der Musik, was er zu allererst hätte thun sollen: er zog einen an Herrn Cascabel adressierten Brief hervor.
Das verstand Clou. Ein Brief, welcher den berühmten Namen Cascabel trug, konnte nur an das Familienoberhaupt gerichtet sein. wenn er nicht etwa Frau Cornelia, oder Herrn Jean, oder Herrn Xander, oder Fräulein Napoleone vermeint war.
So übernahm denn Clou den Brief, indem er durch eine Geberde zu verstehen gab, daß er ihn seinem Herrn zustellen werde. Dann verabschiedete er den Musik mit vielen Verbeugungen, ohne aber herausgebracht zu haben, von wo er komme und wer ihn gesandt habe.
Eine Viertelstunde später, gerade als Clou sich anschickte, in die Belle-Roulotte zurückzukehren, erschien Herr Cascabel am Eingang der Reitbahn, entnervter und besorgter als zuvor.
»Herr Direktor!« sagte Clou.
»Nun?.«
»Ich habe einen Brief empfangen.«
»Einen Brief?«
»Ja, einen Brief, der eben hergebracht worden ist.«
»An mich?«
»An Sie.«
»Wenn es nicht etwa kein Musik war!«
Herr Cascabel griff hastig nach dem Briefe, den Clou ihm bot, und als er die Handschrift des Herrn Sergius auf der Adresse erkannte, wurde er so bleich, daß sein treuer Diener rief:
»Herr Direktor, was haben Sie?«
»Nichts!«
Nichts?. Und doch war, dieser so thatkräftige Mann auf dem Punkte, Clou ohnmächtig in die Arme zu fallen.
Was sagte Herr Sergius in diesem Briefe?. Warum schrieb er an Herrn Cascabel'?. Augenscheinlich, um ihn von den Beweggründen zu unterrichten, aus denen er in der verflossenen Nacht nicht nach Perm zurückgekehrt war'. War er etwa verhaftet?.
Herr Cascabel entfaltete den Brief, rieb sich das rechte, dann das linke Auge, und las ihn in einem Zuge.
Читать дальше