Rußland in Gauklerkleidern durchreisen und sich nach Frankreich flüchten können, wo er völlig sicher gewesen wäre. Und dann keine Trennung mehr!. Kayette und er würden die Familie nicht verlassen!. Und wer weiß, ob nicht später dieser arme Jean!. Ah, wahrhaftig, der Galgen war noch viel zu gut für die Schufte, die eine solche Zukunft vernichten wollten! Herr Cascabel brauste manchmal in einer Weise auf, die seinen Gefährten unbegreiflich war.
»Was hast du nur, Cäsar?« fragte ihn Cornelia.
»Nichts!« antwortete er.
»Warum rasest du dann so?«
»Ich rase, Cornelia, um nicht rasend zu werden!«
Und die vortreffliche Frau vermochte sich die Stimmung ihres Mannes nicht zu erklären.
Vier Tage vergingen; dann erreichte die Belle-Roulotte, sechzig Meilen südwestlich vom Ural, das Städtchen Solikamsk.
Ohne Zweifel waren Ortiks Spießgesellen vor ihm dort eingetroffen; aber vorsichtshalber suchten weder er noch Kirschef sich mit ihnen in Verbindung zu setzen.
Indessen waren Rostof und die übrigen wirklich dort und gedachten ihren Weg in der Nacht fortzusetzen, um das fünfzig Meilen weiter westwärts gelegene Perm zu gewinnen. Und dann würde nichts die Ausführung des abscheulichen Planes aufhalten können.
Beim nächsten Morgendämmern verließ man Solikamsk und am siebzehnten Juli setzte man auf einer Fähre über die Koswa. Wenn keine Verzögerung eintrat, würde die Belle-Roulotte binnen drei Tagen in Perm sein. Dort würde die Familie Cascabel eine Reihe von Vorstellungen geben, bevor sie nach dem Jahrmarkt von Nischni aufbrach. So lautete wenigstens das Programm dieser »Künstler-Tournee«.
Was Herrn Sergius betrifft, so würde er seine Vorkehrungen treffen, um sich allnächtlich auf Schloß Walska einzufinden.
Man kann sich seine Ungeduld und auch die sehr gerechtfertigte Besorgnis vorstellen, mit welcher er seinem Freunde Cascabel von diesen Dingen sprach!
Seit seiner Rettung, während der dreizehnmonatlichen Dauer jener merkwürdigen Reise von der alaskischen bis zur europäischen Grenze hatte er keinerlei Nachrichten vom Fürsten Narkine empfangen. Mußte er angesichts des hohen Alters seines Vaters nicht alles befürchten - sogar, ihn nicht mehr zu finden?.
»Gehen Sie doch!. Gehen Sie doch, Herr Sergius!« antwortete Cäsar Cascabel. »Fürst Narkine befindet sich so wohl wie Sie und ich, sogar noch wohler!. Sie wissen, ich wäre eine prächtige Somnambule geworden!. Ich lese in der Vergangenheit und in der Zukunft!. Fürst Narkine erwartet Sie. in trefflicher Gesundheit. und binnen wenigen Tagen werden Sie ihn wiedersehen!.«
Und Herr Cascabel würde unbedenklich einen Eid auf die Richtigkeit seiner Prophezeiung abgelegt haben, wenn die Verwicklung mit jenem Schufte von einem Ortik nicht gewesen wäre.
Er sagte sich:
»Ich bin nicht böse von Natur, aber wenn ich ihm die Gurgel durchbeißen könnte, so thäte ich's. ohne weiteres!«
Inzwischen wuchs Kayettens Angst in demselben Maße, als die Belle-Roulotte sich Perm näherte. Was für einen Entschluß würde Herr Cascabel fassen? Wie würde er Ortiks Pläne vereiteln, ohne die Sicherheit des Herrn Sergius preiszugeben? Das schien ihr geradezu unmöglich. Es fiel ihr schwer, ihre Besorgnisse zu verhehlen; und Jean, der nicht in das Geheimnis eingeweiht war, litt schrecklich darunter, sie manchmal so gequält und niedergeschlagen zu sehen.
Am Morgen des zwanzigsten Juli setzte man über die Kama und gegen fünf Uhr abends langten Herr Sergius und seine Gefährten auf dem großen Marktplatze von Perm an und trafen ihre Vorkehrungen zu einem mehrtägigen Aufenthalte.
Eine Stunde später hatte Ortik sich mit seinen Helfershelfern ins Einvernehmen gesetzt und Rostof schrieb einen Brief, welcher Herrn Sergius abends übergeben werden sollte - in welchem Briefe man ihn in dringender Angelegenheit um eine Unterredung ersuchte und ihm eine Schenke der Stadt als Begegnungsort bezeichnete. Sollte er dort nicht erscheinen, so werde man sich seiner Person zu bemächtigen wissen, und müßte man ihn auch auf der Straße nach Walska arretieren.
Als dieser Brief in der Abenddämmerung von Rostof überbracht wurde, war Herr Sergius bereits nach Schloß Walska aufgebrochen. Herr Cascabel, der gerade allein war, glaubte sich über das Eintreffen dieses Briefes sehr erstaunt stellen zu sollen. Indessen übernahm er es, denselben dem Adressaten zuzustellen, und hütete sich wohl, irgend jemand davon zu sprechen.
Die Abwesenheit des Herrn Sergius verdroß Ortik. Er würde es lieber gesehen haben, wenn der Erpressungsversuch vor der Zusammenkunft des Fürsten mit dem Grafen Narkine stattgefunden hätte. Indessen ließ er seinen Unmut nicht merken und begnügte sich größerer Verstellung halber, als man sich zum Abendessen setzte, mit der Frage:
»Herr Sergius ist nicht hier?.«
»Nein,« antwortete Herr Cascabel. »Er macht die nötigen Schritte bei den Behörden, um die Bewilligung zu unseren Vorstellungen zu erlangen.«
»Und wann wird er zurück sein?«
»Ohne Zweifel im Laufe des Abends.«
Das Gouvernement Perm sitzt sozusagen rittlings auf dem Rücken des Ural, einen Fuß in Asien, den andern in Europa. Es wird von den Gouvernements Vologdia im Nordwesten, Tobolsk im Osten, Viatka im Westen und Orenburg im Süden begrenzt. Dank dieser Lage bildet seine Bevölkerung ein merkwürdiges Gemisch von asiatischen und europäischen Typen.
Die an der Kama gelegene Hauptstadt Perm zählt sechstausend Einwohner und treibt einen bedeutenden Metallhandel. Vor dem achtzehnten Jahrhundert ein einfacher Marktflecken, bereicherte sie sich durch die eintausendsiebenhundertdreiundzwanzig erfolgte Entdeckung einer Kupfermine und wurde eintausendsiebenhunderteinund-achtzig zur Stadt erklärt.
Rechtfertigt sie diese Bezeichnung? Um die Wahrheit zu sagen: kaum! Keine Monumente, meist enge und schmutzige Gassen, unbequeme Häuser, Gasthöfe, deren Lob den Reisenden nie in den Sinn gekommen zu sein scheint.
Schließlich waren bauliche Fragen von geringer Wichtigkeit für die Familie Cascabel. War doch ihr rollendes Haus jedem andern vorzuziehen! Sie würde es weder mit dem Saint-Nikolashotel in Newyork, noch mit dem Grandhotel in Paris vertauscht haben.
»Man bedenke!« sagte er wiederholt. Die Belle-Roulotte ist von Sakramento bis Perm gefahren!. Nichts geringeres, wenn's gefällig ist!. Man zeige mir doch ein Pariser, Londoner, Wiener oder Newyorker Hotel, das je etwas ähnliches vollbracht hätte!«
Was kann man auf Argumente dieser Art erwidern?
An jenem Tage hatte Perm sich also um ein Haus vermehrt, welches mitten auf seinem Marktplatze stand, und zwar mit Erlaubnis des Civilgouverneurs, einer Persönlichkeit, deren Funktionen denen eines französischen Departementspräfekten gleichkommen. Diese Persönlichkeit hatte nichts Verdächtiges in den Papieren der Truppe Cascabel gefunden.
Die Ankunft der Belle-Roulotte hatte sofort die öffentliche Neugier erregt. Französische Gaukler, die mitten aus Amerika kamen, in einem von Renntieren gezogenen Wagen!. Der geschickte Direktor hoffte denn auch großen Vorteil aus der Begeisterung des Publikums zu ziehen.
Der Jahrmarkt zu Perm war in vollem Gange und sollte noch einige Tage währen. Da waren also ein paar reichliche Einnahmen gesichert. Aber man durfte keine Zeit verlieren, da es sich darum handelte, erst in Perm und dann in Nischni das zur Rückkehr nach Frankreich nötige Geld zu verdienen. Später würde man schon sehen. Man stellte das der Gnade des Himmels anheim, der sich ohnehin der Familie Cascabel gegenüber immer äußerst gnädig erwiesen hatte.
Demzufolge war alle Welt zu sehr früher Morgenstunde auf den Beinen. Jean, Xander, Clou und die beiden russischen Matrosen wetteiferten mit einander in gutem Willen bei den Vorbereitungen zur Vorstellung. Was Herrn Sergius betrifft, so war er nicht zurückgekehrt, wie er versprochen - was Ortik lebhaft verdroß und Herrn Cascabel sehr beunruhigte.
Читать дальше